Fußball-WM 2018

WM-Zeitreise - 25. Juni 1982 Eine Schande für den Fußball

Algerische Fans winken mit Geldscheinen.

Algerische Fans winken mit Geldscheinen.

(Foto: imago/Sportfoto Rudel)

"Hör auf. Oder willst du alles kaputt machen?", rief Paul Breitner seinem eingewechselten Mitspieler Lothar Matthäus zu, als dieser es wagte, ein Dribbling anzusetzen. Der "Nichtangriffspakt" zwischen Deutschland und Österreich ist eine der dunkelsten Stunden der WM-Geschichte!

Die Reaktionen der deutschen Fernsehzuschauer auf das Spiel am 25. Juni 1982 in Gijón zwischen Deutschland und Österreich fielen eindeutig aus. Werner F. aus M. schrieb in seinem Brief: "Ich will im Fernsehen packenden Fußball sehen und nicht das Ballgeschiebe von Taktikern und Hasenfüßen. Dass Paul Breitner bei diesem Wiener-Kaffeehaus-Fußball eifrig mitmachte, beweist, dass er sich zur Not auch selbst betrügt: War nicht er es, der die hohen Gagen der Stars damit begründete, dass sie entsprechend attraktiven Fußball bieten?"

Als die Fußball-Welt noch in Ordnung war: Die Kapitäne Karl-Heinz Rummenigge und Erich Obermayer vor dem Spiel.

Als die Fußball-Welt noch in Ordnung war: Die Kapitäne Karl-Heinz Rummenigge und Erich Obermayer vor dem Spiel.

(Foto: imago sportfotodienst)

Und Fritz W., Pfarrer im Ruhestand, aus B. dichtete gar einige Zeilen zu der Partie, die in Deutschland unter dem Titel "Die Schande von Gijón" bekannt ist: "Da unsere Spieler den Text der Nationalhymne offenbar nicht kennen, empfehle ich für Begegnungen von der Art Deutschland gegen Österreich Folgendes: Einigkeit ist diesmal wichtig / mit dem Brudervolk aus Wien. / Denn wir wollen weiterkommen / mit größtmöglichem Gewinn. / Unser Urlaub ist uns nahe, / uns‘re Fahrt ist schon gebucht; / der sei ewig zu verdammen, der ein flottes Spiel versucht."

In der Tat hatte Paul Breitner zu dem in der 66. Minute für Karl-Heinz Rummenigge eingewechselten Lothar Matthäus, als dieser überraschend ein Dribbling wagte, den schönen Satz hinübergerufen: "Hör auf. Oder willst du alles kaputt machen?" Zu dieser Zeit bewegte sich auf dem Platz allenfalls noch ein laues Lüftchen. Ansonsten herrschte totaler Stillstand.

"Irgendwas ist an unserem Apparat kaputt"

Ein Cartoon, der die Leserbriefe der TV-Zuschauer optisch begleitete, zeigte die "Schande von Gijón" aus einer anderen Perspektive. Eine Hausfrau sitzt vor dem TV-Gerät und kommentiert den "Nichtangriffspakt" so: "Gut, dass du kommst, Herbert. Irgendwas ist an unserem Apparat kaputt. Ich habe die ganze Zeit nur ein Standbild."

Die Ausgangslage vor diesem Spiel war eindeutig. Eine knappe Niederlage Österreichs und beide Mannschaften würden weiter dabei sein. Zum Leidwesen von Algerien. Die hatten zwar Deutschland und Chile knapp geschlagen - aber eben nur knapp. Und da die letzten Spiele der Gruppe nicht wie heutzutage zeitgleich stattfanden, sondern hintereinander, wussten beide Teams genau, was die Stunde geschlagen hatte.

Und so war bereits nach zehn Minuten die Messe des Tages gelesen. Nach einer Flanke von Littbarski hatte Horst Hrubesch mit dem Oberschenkel den Ball ins Tor bugsiert. Was danach passierte, beschrieb DFB-Torhüter Toni Schumacher einmal so: "Ich habe in 90 Minuten zwei Bälle auf mein Tor bekommen und beide gehalten - einen Einwurf und eine Rückgabe." Der letzte Torschuss der Partie wurde in der 64. Minute (!) registriert. Die Zuschauer im Stadion pfiffen sich die Lunge aus dem Hals. Algerische Fans auf der Tribüne präsentierten den Fotografen wütend Geldscheine. Bis heute halten sich Gerüchte, der "Nichtangriffspakt" zwischen beiden Mannschaften wäre abgesprochen gewesen. Die französische Zeitung "Le Figaro" vermutete eher so etwas wie gelebte Faulheit bei den 22 Spielern auf dem Platz: "Sind die deutschen und österreichischen Spieler Schweinehunde oder Schwachsinnige? Wohl nicht einmal das. Vor allem aber eiskalte Profis - eiskalt wie Dschungeltiere, die niemals zwei Tatzenhiebe versetzen, wenn einer genügt, sich Nahrung zu holen."

"Nur so kann man weiterkommen"

Dieter Adler interviewt nach der unwürdigen Partie Toni Schumacher und Uli Stielike.

Dieter Adler interviewt nach der unwürdigen Partie Toni Schumacher und Uli Stielike.

(Foto: imago/Sportfoto Rudel)

Verbal in die Nesseln setzte sich nach der Partie der österreichische Delegationsleiter Hans Tschak: "Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn jetzt 10.000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können." Aussagen, die weit über den Sport hinaus für Irritationen sorgten.

Die deutschen Spieler wollten sich der Sache ohnehin nicht annehmen. Während sich Wolfgang Dremmler wenigstens noch in Ansätzen die Kritik aus der Heimat anhörte und Verständnis äußerte - "Ich verstehe irgendwo die Reaktionen der Zuschauer, aber ich kann mich darum wirklich nicht kümmern" - akzeptierte Uwe Reinders kein schlechtes Wort über die Art und Weise des Spielverlaufs. Für ihn stand fest: "Nur so kann man weiterkommen. Außerdem haben ja die Österreicher mit dem Scheiß angefangen."

Vor Ort im Hotel wurden die Nationalspieler direkt mit dem Frust und der Wut der eigenen Fans konfrontiert, wie Kommentator und Autor Dieter Adler erzählte: "Auf ihren Zimmern angekommen, gehen einige auf den Balkon, winken hinunter. Einer der Spieler dreht gar der Menge unten demonstrativ seine Kehrseite zu. Der Proteststurm nimmt zu. Eier und Tomaten werden nach oben geworfen, erreichen aber höchstens die dritte Etage. Die Leidtragenden sind Journalisten, die abends in ihren Zimmern oder an den Fernstern die Überreste der ohnmächtigen Wut finden. Im Wasserbomben-Werfen bereits geübt, betätigen sich mindestens zwei Spieler. Das ist ihre Antwort auf das, was neun Stockwerke unter ihnen vor sich geht."

Die Kluft zwischen den Fußball-Profis und ihren Fans war in Deutschland wahrscheinlich nie größer als im Jahr 1982. In Zeiten des Bundesliga-Skandals wandten sich die Zuschauer insgesamt irritiert vom Fußball ab. Nun aber ekelten die Protagonisten und ihr Auftreten die deutschen Anhänger regelrecht. Man wünschte sich in andere Zeiten zurück, wie auch das Schreiben von Rudi B. aus S.
zeigte: "Hätten ARD und ZDF anstelle der kostspieligen WM-Übertragungen Erinnerungen aus der Fußballzeit von Sepp Herberger und Helmut Schön gezeigt, wäre die Reaktion der Zuschauer gewiss positiver ausgefallen."


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Quelle: ntv.de

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