Wirtschaft

Ungewollter Offenbarungseid Der Mann, der die Wahrheit über China nicht sagen darf

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Ein Wirtschaftsforscher, der die von der Regierung angepeilten Wachstumsdaten für überzogen hält: Gao Shanwen im Jahr 2009.

Ein Wirtschaftsforscher, der die von der Regierung angepeilten Wachstumsdaten für überzogen hält: Gao Shanwen im Jahr 2009.

(Foto: REUTERS)

Dass Peking seine Wachstumszahlen frisiert, ist für China-Kenner ein offenes Geheimnis. Ein Experte, der den Betrug beim Namen nennt, wird dafür nun von Präsident Xi Jinping persönlich mundtot gemacht. Denn in Peking ist das nicht nur Majestätsbeleidigung.

Das, was Gao Shanwen vor Weihnachten in Washington offen aussprach, wissen Wirtschaftsforscher, Finanzanalysten und eigentlich alle, die sich mit Chinas Wirtschaft beschäftigen, schon lange. Gao, Chefvolkswirt der größten staatlichen Investmentholding SDIC, war zu einer gemeinsamen Konferenz des Peterson Institute of International Economics und eines chinesischen Thinktanks in die USA gereist. Und leistete dort eine Art ungewollten Offenbarungseid für die Volksrepublik: "Wir kennen die wahre Größe von Chinas echter Wachstumszahl nicht", sagte Gao. "Meine eigene Vermutung ist, dass in den letzten zwei oder drei Jahren die echte Zahl im Schnitt bei ungefähr zwei Prozent gelegen haben könnte, obwohl die offizielle Zahl nahe fünf Prozent ist."

Ein Wirtschaftsforscher, der die von der Regierung angepeilten Wachstumsdaten für überzogen hält: Was in Deutschland und anderen westlichen Staaten Tagesgeschäft ist, wird in einem autoritären Land wie China zur staatsgefährdenden Angelegenheit. Die Antwort folgte daher auf dem Fuß: Laut "Wall Street Journal" soll niemand Geringeres als Chinas Präsident Xi Jinping persönlich so erbost über Gaos Kommentar gewesen sein, dass er die Behörden prompt anwies, eine Untersuchung einzuleiten und den abtrünnigen Ökonomen zu disziplinieren. Nun hat er laut dem Blatt, das sich auf zwei mit der Angelegenheit vertraute Quellen beruft, auf unbestimmte Zeit öffentliches Auftrittsverbot. Eine erste Veranstaltung an der Nankai-Universität in Tianjin, die an diesem Wochenende stattfinden sollte, wurde demnach mit Verweis auf Gao bereits abgesagt.

Gao hat die chinesische Regierung in seiner Funktion als Chefökonom der größten staatlichen Investmentfirma schon oft beraten. Aber nicht nur deshalb grenzen seine Aussagen an Majestätsbeleidigung. Denn in China wird die Wahrheit über die wirtschaftliche und politische Lage von der Staatsführung festgelegt. Sie gibt am Ende des Jahres ein Wachstumsziel vor, das dann in schöner Regelmäßigkeit von der Wirtschaft des Landes bis fast auf die letzte Kommastelle erfüllt wird. Jedenfalls, wenn man den Statistikern im Reich der Mitte glauben mag. Gao hat die wichtigste Regel des real existierenden Staatskapitalismus verletzt: Die Partei hat immer recht. Vielmehr noch: Ihrem Mann an der Spitze, Präsident Xi Jinping, darf nicht widersprochen werden. Denn was Xi sagt, ist in China Gesetz.

Analysten bezeichnen Wachstumsdaten als "reine Fantasie"

Dabei hat Gao nur ein offenes Geheimnis ausgesprochen. An Chinas offiziellen Wachstumsdaten gibt es schon seit Jahren erhebliche Zweifel. Immer wieder kommt der Verdacht auf, dass Peking die Zahlen gnadenlos frisiert. Analysten bezeichnen sie teilweise als "reine Fantasie". Und stützen sich lieber auf Indikatoren, die nicht so leicht gefälscht werden können, wie etwa den Energieverbrauch, das Transportvolumen auf der Schiene oder die Kreditvergabe, um die reale Leistung einzuschätzen.

Selbst Chinas einstiger Premierminster Li Keqiang soll sich lieber auf diese Werte verlassen haben, um einen unverstellten Blick auf die Realität zu bekommen, statt auf die offiziellen Wachstumsangaben. Nicht gerade zur Vertrauensbildung beigetragen hat auch, dass Chinas Chefstatistiker zu lebenslanger Haft wegen Bestechung verurteilt wurde - und Kader der Partei hinter vorgehaltener Hand immer wieder zugegeben, dass die Zahlen massiv geschönt werden.

Doch dass Xi Jinping nun so harsch auf Gaos Affront reagiert, liegt nicht nur daran, dass er die Wahrheit unverhohlen ausspricht. Sondern an der verheerenden Wirtschaftslage: In China geht es unverkennbar bergab. Seit der Covid-Pandemie hat sich die einstige Konjunkturlokomotive der Welt nie wieder berappelt. Überall in China stehen ganze Geisterstädte leer, weil die Entwickler auf Geheiß der Partei einen irrsinnigen Bauboom angefacht haben, der nun in sich zusammenfällt. Die Verschuldung der Privathaushalte nähert sich 300 Prozent der Wirtschaftsleistung, die größte Immobilienkrise aller Zeiten lähmt das Land. Xi Jinping kann sich öffentliche Kritik an seinem Wachstumsziel derzeit einfach nicht leisten.

Gao nährt Zweifel, ob Xi Krise in den Griff bekommt

Um den großen Crash abzubremsen, packt Chinas Präsident längst die ganz großen Konjunktur-Booster aus und verspricht eine "moderat lockere Geldpolitik" und "proaktive Fiskalpolitik". In der bürokratischen Sprache von Pekings Apparatschiks heißt das: China ist entschlossen, die Krise so lange mit Geld zuzuschaufeln, bis sie vorbei ist. Das hat es seit der Finanzkrise 2008 im Reich der Mitte nicht mehr gegeben. Es ist das chinesische Pendant zu Mario Draghis "Whatever it takes", mit dem der EZB-Chef 2012 gelobte, den Euro zu retten - koste es, was es wolle.

Doch die Frage ist, ob das diesmal reicht. Chinas Erzeugerpreise sind seit mehr als zwei Jahren im Sinkflug. Das Land steht am Rande einer gefährlichen Abwärtsspirale. Investoren fürchten längst die "Japanifizierung" des Riesenreichs: jahrzehntelange Flaute durch schwächelndes Wachstum und sinkende Preise, wie in den 90er und 2000er Jahren in Tokio. Das neue Jahr begannen Chinas Börsen denn auch mit dem größten Absturz am ersten Handelstag des Jahres seit zehn Jahren: Um 2,9 Prozent ging es für den Leitindex CSI 300 runter.

In diesem düsteren Umfeld wiegt besonders schwer, dass Gao nicht nur Chinas offizielle Wachstumsgeschichte und damit die Erfolgsstory der Partei infrage stellte. Sondern auch Zweifel daran äußerte, ob Xi und der Rest von Chinas Führung die derzeitige Krise in den Griff bekommen werden: "Ihre Anstrengungen, die Wirtschaft anzuschieben, werden sehr opportunistisch sein", ätzte Gao auf dem Forum in der US-Hauptstadt. "Am Ende denke ich nicht, dass sie sehr zuversichtlich erfüllen können, was sie versprochen haben."

Aufstieg zur Weltmacht

Ein schlechteres Timing hätte die Kritik für Xi Jinping kaum haben können: China bereitet sich seit Wochen auf allen Ebenen auf den absehbaren Frontalangriff der Trump-Administration vor: mit der Vorbereitung von Geldspritzen für die Konjunktur, mit dem Horten von Gold und mit strategischen Drohgebärden wie dem Exportstopp für seltene Mineralien in die USA. Schwäche zu zeigen, ist deshalb gerade jetzt keine Option. Dass Gao ausgerechnet in den USA, also quasi im Feindesland des kommenden Handelskriegs, die Wahrheit über Chinas Wirtschaft ausspricht, kommt für Peking daher schon fast einer Art Hochverrat gleich.

Xi Jinping hat seinem Land nichts weniger als den Aufstieg zur Weltmacht versprochen. Chinas Präsident will die USA als größte Volkswirtschaft überholen und bis 2035 die Wirtschaftsleistung des Landes verdoppeln. Rechnerisch braucht er dafür knapp fünf Prozent Wachstum in den nächsten zehn Jahren. Xis gesamte politische Glaubwürdigkeit hängt deshalb an der Zahl, die Gao gewagt hat, infrage zu stellen. Auch wenn er dabei nur ausgesprochen hat, was die Welt längst weiß.

Quelle: ntv.de

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