Wirtschaft

Systematische Manipulationen Hunderttausende werden um Mindestlohn betrogen

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Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit führt regelmäßig Schwerpunktprüfungen durch.

Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit führt regelmäßig Schwerpunktprüfungen durch.

(Foto: picture alliance/dpa)

Wie stark der Mindestlohn steigen soll, darüber streitet die neue Bundesregierung seit den Koalitionsverhandlungen. Aktuell stehen allen Arbeitnehmern ab 18 Jahren mindestens 12,82 Euro pro Stunde brutto zu - bis auf wenige Ausnahmen. Trotzdem bekommen Hunderttausende Anspruchsberechtigte weniger Geld für ihre Arbeit. Nicht nur durch Schwarzarbeit, sondern auch durch Manipulation bei Unterlagen und Beschäftigungsverhältnissen. Aus Angst um ihren Job beteiligen sich einige Betroffene sogar aktiv an dem Betrug.

Wie viele Arbeitnehmer sind betroffen?

Die Mindestlohn-Verstöße spielen sich im Verborgenen ab. Deshalb gibt es keine genauen Zahlen, sondern nur Schätzungen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt bei den Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel auf fast sechs Prozent der Anspruchsberechtigten: Rund zwei Millionen Menschen verdienten demnach im Jahr 2021 weniger als den Mindestlohn, wie DIW-Experte Johannes Seebauer auf ntv.de-Anfrage mitteilt. Beim Sozio-oekonomischen Panel wurden Beschäftigte nach ihren Löhnen befragt. Zieht man hingegen die Angaben von Arbeitgebern aus der sogenannten Verdiensterhebung von Anfang 2022 heran, erhielten etwa 800.000 und damit zwei Prozent der Anspruchsberechtigten weniger, als ihnen zustand.

Wie wird kontrolliert?

Überprüft wird die Einhaltung des Mindestlohngesetzes von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls (FKS). Diese leitete im vergangenen Jahr 2759 Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Nichtzahlung des gesetzlichen Mindestlohns ein, wie eine Sprecherin ntv.de mitteilt. Hinzu kommen Formalverstöße, etwa gegen Aufzeichnungspflichten.

"Das aus meiner Sicht größte Einfallstor für die Umgehung des Mindestlohns ist die Erfassung der Arbeitszeit", erklärt Seebauer. "Eine ordnungsgemäße Dokumentation findet oft nicht statt und ist schwer nachzuprüfen beziehungsweise leicht manipulierbar: Pausen werden nicht korrekt verrechnet, Rüstzeiten nicht vergütet etc." Eine sogenannte Rüstzeit wird benötigt, um beispielsweise Maschinen für die Arbeit vorzubereiten.

Neben Kontrollen im Tagesgeschäft führt die FKS regelmäßig bundesweite und regionale Schwerpunktprüfungen durch. Bei Verstößen drohen Geldbußen von bis zu 500.000 Euro. Effiziente Kontrollen sind laut DIW allerdings allein schon aus Personalmangel schwierig.

Wie wird der Mindestlohn umgangen?

Der Zoll stellt regelmäßig unter anderem folgende Manipulationsformen fest, um den Mindestlohn zu unterschreiten:

  • Fehlende, falsche oder unvollständige Aufzeichnungen der Arbeitszeiten
  • Bereitschafts- oder Rüstzeiten sowie Leerfahrten werden entgegen dem Arbeitsrecht nicht als Arbeitszeit angerechnet
  • Falsche Bezeichnung von Arbeitnehmern als Praktikanten, Auszubildende oder Selbstständige
  • Verschleierung der Haupttätigkeit eines Betriebs, um Branchenmindestlöhne zu umgehen

Das Portal mindestlohnbetrug.de des ehemaligen Linken-Bundestagsabgeordneten Victor Perli listet als weitere Methoden unter anderem unerfüllbare Leistungsvorgaben auf - in der vorgesehenen Arbeitszeit ist diese Akkordarbeit nicht zu schaffen, Betroffene müssen also zwangsläufig länger arbeiten, bekommen aber nur die vereinbarten Stunden bezahlt. In anderen Fällen werden Lohnabzüge für angeblich "schlechte Arbeit", Werkzeug oder Arbeitskleidung fällig.

Das Jobportal Stepstone führt aus: "Einige Arbeitgeber stellen ihren Angestellten Material- oder Essenskosten zu überhöhten Preisen in Rechnung und ziehen diese anschließend vom Lohn ab." In der Baubranche werden demnach sogar Insolvenzen vorgetäuscht: Kurz vor Fertigstellung eines Gebäudes "verschwinden" Firmen und zahlen den letzten Lohn nicht mehr. Vor allem Arbeiter aus dem Ausland haben dann wenig Chancen, ihr Geld zu bekommen.

Der Zoll erlebt zudem, dass einige Arbeitnehmer einer Bezahlung unterhalb des Mindestlohns sogar zustimmen - und aus Angst um ihren Arbeitsplatz bei einer Kontrolle behaupten, den Mindestlohn zu erhalten.

Wer ist betroffen?

In fast allen Wirtschaftsbereichen gebe es Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung, sagt die Zoll-Sprecherin - vor allem in lohnintensiven Branchen. Im Visier haben die Kontrolleure unter anderem das Bau- sowie das Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe, zudem das Speditions- und das Gebäudereinigungsgewerbe.

Besonders verbreitet sind Mindestlohn-Verstöße nach Angaben des DIW bei Minijobs. Auch überdurchschnittlich betroffen: befristete Tätigkeiten, kleine Betriebe, Frauen, Ausländer, junge und Arbeitnehmer im Rentenalter oder mit geringer Bildung sowie in Ostdeutschland.

Wer hat keinen Anspruch auf den Mindestlohn?

Ausgenommen vom Mindestlohnanspruch sind Auszubildende, Selbstständige sowie Beschäftigte im Freiwilligendienst oder in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, Ehrenamtliche, Teilnehmer einer Maßnahme zur Arbeitsförderung und Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten nach dem Wiedereinstieg. Arbeiten Letztere in einer Branche, für die ein eigener Branchen-Mindestlohn vereinbart wurde, bekommen sie diesen sofort. Praktikanten haben nur unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf den Mindestlohn.

Quelle: ntv.de

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