Interview zum Brexit-Debakel "Die Angst vor totalem Chaos ist übertrieben"
16.01.2019, 18:00 Uhr
Die Lage ist gar nicht so verzweifelt, wie manche meinen: "Das Wesentliche ist auf britischer Seite die Grundsatzentscheidung, was man möchte", sagt Ökonom Holger Schmieding.
(Foto: REUTERS)
Theresa Mays Brexit-Flop "ist ein Fortschritt", sagt Chefvolkswirt Holger Schmieding von der Berenberg Bank. Es gebe mehr Gewissheit und Großbritannien könne nun über andere Varianten eines EU-Austritts nachdenken. Der Ökonom hat auch eine Idee für einen Plan B.
n-tv.de: Theresa Mays Brexit-Deal mit der EU ist im britischen Parlament gefloppt. Wie ist die Stimmung in der Londoner City am Tag danach?
Holger Schmieding: Die Stimmung ist gar nicht so schlecht. Der Deal ist so klar abgelehnt worden, dass wir zumindest etwas mehr Gewissheit haben. Die Diskussion kann sich jetzt auf andere Varianten konzentrieren. Und das ist durchaus ein kleiner Fortschritt.
Die Finanzmärkte reagieren kaum auf das Debakel, das britische Pfund hat sogar leicht zugelegt. Warum ist der ungeordnete Brexit kein Thema an den Börsen?
Das Risiko steht zwar immer noch im Raum, aber gleichzeitig sind die Chancen auf einen weicheren Brexit oder ein neues Referendum gestiegen. Also halten sich die Dinge zumindest die Waage.
Wie groß schätzen Sie die Chancen ein, dass es doch noch einen geregelten EU-Austritt gibt?
Wir sehen die Chancen für einen geregelten EU-Austritt bzw. für gar keinen Austritt weiterhin bei 80 Prozent und das Risiko eines ungeregelten, harten Brexits bei 20 Prozent. Daran hat sich nichts geändert.
Das Parlament hat May eine Frist von nur drei Sitzungstagen gegeben, um eine Alternative zum bisherigen Brexit-Deal vorzulegen. Wie könnte ein guter Plan B aussehen?
Dass Großbritannien insgesamt und nicht nur Nordirland im Binnenmarkt und in der Zollunion für Güter verbleibt. Dafür müsste es keine Grenzkontrollen zwischen Großbritannien und der EU geben. Und auch das Thema, wie man sie in Irland vermeidet, hätte sich erledigt. Bei so einem Plan B könnte Großbritannien im Bereich Dienstleistungen immer noch von den EU-Regelungen abweichen, hätte dann aber Zugangsbeschränkungen für Dienstleistungen in Europa.
Die Hardliner im Parlament wollen doch aber gerade keine enge Anbindung an die EU. Warum sollten Sie so einem Plan B dann zustimmen?
Weil die große Mehrheit dafür ist, auch viele Konservative, wenn man sie frei abstimmen ließe. Und die Labour-Opposition ist überwiegend auch dafür. Allerdings müsste es eine parteiübergreifende Abstimmung geben. Bei klarer Parteidisziplin ist so ein Plan nicht durchsetzbar. Aber wir haben gestern bei den Konservativen ja gesehen, dass es mit der Fraktionsdisziplin im britischen Parlament inzwischen nicht mehr so weit her ist.
Wäre ein harter Brexit nicht besser als eine weitere Hängepartie, weil er der Wirtschaft zumindest klare Rahmenbedingungen geben würde?
Nein. Ein harter Brexit wäre eine Katastrophe und für alle Seiten schädlich. Man könnte ihn durch kleinere Übergangsabkommen etwas abmildern, aber er wäre schlecht. Eine völlig ungeregelte Scheidung ist nicht wünschenswert.
Dann bezahlt die Wirtschaft weiter die Zeche für das Brexit-Chaos.
Das Wesentliche ist auf britischer Seite die Grundsatzentscheidung, was man möchte. Den harten Brexit? Das glaube ich nicht. Ein neues Referendum? Das ist möglich, aber wahrscheinlich doch nicht mehrheitsfähig im Parlament. Oder den weichen Brexit, den Plan B? Dann würde man vielleicht ein bisschen mehr Zeit brauchen. Das Wesentliche ist die Grundsatzentscheidung, nicht das Aushandeln der Details.
Kilometerlange Staus, Chaos im Luftverkehr, Arzneimittel-Engpässe: Sind das Schauergeschichten über den harten Brexit? Oder ist die Angst vor Chaos berechtigt?
Diese Angst vor einem totalen Chaos ist übertrieben. Es ist zwar theoretisch denkbar, dass es so kommen könnte, wenn am 30. März plötzlich Grenzkontrollen eingeführt und mangels gesetzlicher Grundlage die Flugzeuge nicht mehr fliegen könnten. Aber keine Seite ist dazu gezwungen. Man könnte zum Beispiel im Luftverkehr einfach drei Monate lang so tun, als sei alles beim Alten, solange bis sich die Dinge finden. Das große Chaos würde damit ausfallen.
Und wie groß wäre der Schaden, wenn die Trennung radikal vollzogen würde?
Wenn Großbritannien aus der EU fliegt und es für den Handel keine verlässliche Perspektive mehr gibt, werden die Investitionen in Großbritannien einbrechen und die Importe vom Kontinent schrumpfen. Das bedeutet weniger Wirtschaftswachstum auf beiden Seiten und in Großbritannien wahrscheinlich eine Rezession. Für den Kontinent bestünde zumindest eine Rezessionsgefahr.
Was bedeutet das konkret in Zahlen?
Ein harter Brexit würde kurzfristig eine Konjunkturkrise auslösen und langfristig das britische Wirtschaftswachstum vermutlich pro Jahr um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte unter das jetzige Niveau drücken. Für den Kontinent gäbe es kurzfristig einen konjunkturellen Schock, der aktuell tatsächlich zu einer Rezession beitragen könnte. Langfristig wären die Auswirkung für die EU27 jedoch gering. Es gäbe vielleicht ein klein wenig geringeres Jobwachstum, als wir es sonst hätten.
Die politische Ungewissheit hat die Wirtschaft bereits viel Geld gekostet. Müssen die Firmen nicht eigentlich Schadenersatz dafür verlangen?
Eine schöne Idee. Aber natürlich kann man für politische Fehlentscheidungen auf britischer Seite keinen Schadenersatz verlangen. Man kann ja keine finanzielle Wiedergutmachung von denjenigen in Großbritannien, die für den Brexit gestimmt haben, oder den Parlamentariern einfordern. Politische Unsicherheit ist nun mal Teil des Geschäftslebens.
Die Politik scheint die wirtschaftlichen Kosten bislang zu ignorieren. Warum verhallen die Warnungen der Wirtschaft ungehört?
Die Wirtschaft hat ihre Interessen deutlich gemacht. Aber in der Politik - insbesondere in Großbritannien - spielen andere Dinge eine größere Rolle. Der Brexit ist dort ein sehr emotionales Thema. Für seine Anhänger ist er eine Frage der nationalen Souveränität, für die man notfalls auch wirtschaftliche Einbußen hinzunehmen muss. Dass diese vermeintliche Unabhängigkeit reine Illusion ist, ist eine andere Sache.
Ohne Austrittsabkommen würde Londons Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und der Zollunion schlagartig am 29. März enden. Haben Sie schon Pläne für den Tag?
Ich habe einige Termine in Deutschland. Am Abend will ich aber nach London zurückfliegen, um dann in der Nacht in Großbritannien live dabei zu sein. Ich habe mein Ticket schon gekauft, und ich bin sicher, dass man mich auch landen lassen wird.
Mit Holger Schmieding sprach Diana Dittmer
Quelle: ntv.de