Wird Deutschland unproduktiv? "Wir halten mit Kurzarbeit überholte Industrien am Leben"
25.06.2024, 15:51 Uhr Artikel anhören
"Kurzarbeit bedeutet, dass ich Arbeitnehmer habe, die ich nicht produktiv einsetzen kann und der Staat bezahlt mir das", sagt Sebastian Dettmers.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die deutsche Wirtschaft hat ein großes Problem: Die Bevölkerung wird überproportional alt und zunehmend unproduktiv. "Das ist einzigartig in der Fortschrittsgeschichte der letzten 200 Jahre", sagt Sebastian Dettmers. Der Chef der Jobplattform Stepstone Group mahnt im ntv-Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich": "Wir müssen die Produktivität ankurbeln. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir wieder mehr arbeiten." Die Politik ist ihm zufolge dabei bisher keine Hilfe: "Ich höre selten Politiker darüber sprechen, wie man Produktivität ankurbeln kann. Ganz im Gegenteil. Ich beobachte viele Maßnahmen, um sie aktiv niedrig zu halten."
ntv.de: Künstliche Intelligenz ist derzeit in aller Munde. Welchen Einfluss wird sie auf die Arbeitswelt haben?
Sebastian Dettmers: Wir haben viele Werkzeuge an der Hand, Arbeit zu automatisieren, zusammen mit KI zu arbeiten. Faktisch tun wir das noch viel zu wenig und wenn wir es tun, ineffizient. Die Produktivität stagniert hierzulande seit ungefähr fünf Jahren. Das ist einzigartig in der Fortschrittsgeschichte der letzten 200 Jahre. KI hat bisher nicht geholfen. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen: Wie setzen wir diese Tools so ein, dass sie nicht einfach nur noch mehr Bürokratie schaffen, sondern dass sie uns tatsächlich bei der Arbeit entlasten und uns produktiver machen?
Wie passt das zusammen mit Forderungen, dass die Menschen wieder mehr arbeiten müssen?
Das zum einen an der stagnierenden Produktivität, aber auch an der Entwicklung der Erwerbsbevölkerung. Die arbeitende Bevölkerung schrumpft. Das Verhältnis von Menschen, die nicht arbeiten, vor allem von denen im Ruhestand, und denen, die arbeiten, hat sich verändert. Aktuell haben wir in Deutschland ungefähr drei Erwerbstätige pro Rentner. In den kommenden 20 bis 30 Jahren wird das Verhältnis auf ungefähr zwei sinken. Immer weniger Menschen müssen den Sozialstaat am Laufen halten. Deswegen fragen wir uns auch: Müssen wir wieder mehr arbeiten? Meine Antwort: Wir müssen die Produktivität ankurbeln, so wie immer in unserer Fortschrittsgeschichte. Wenn das nicht funktioniert, müssen wir wieder mehr arbeiten.
Ist das ein internationales Problem oder ein deutsches?
Die US-Amerikaner arbeiten deutlich mehr als wir. Das ist auch ein Grund, warum wir in den Produktivitätsstatistiken sehen, dass die Amerikaner uns abhängen. Aber sie arbeiten eben auch deutlich länger. Das ist der Diskurs, den wir als Gesellschaft führen müssen. Wie wichtig ist uns Wirtschaftswachstum, wie wichtig ist uns Wohlstand und wie wichtig ist es uns, weniger zu arbeiten? Fakt ist: Wir haben die Rente an der Backe, wir haben das Gesundheitssystem an der Backe. Das müssen wir genauso finanzieren wie notwendige Investitionen ins Bildungssystem, in die Infrastruktur, in alle Bereiche, die wir in den letzten Jahren vernachlässigt haben. Wie kriegen wir das hin, mit mehr Produktivität oder mehr Arbeit? Eines von beiden muss es sein. Wir können nicht sagen: Wir lassen die Produktivität niedrig, wir arbeiten weniger und gehen mit den Investitionen runter. Dann befinden wir uns in einer ungesunden Abwärtsspirale. Ich höre allerdings selten Politiker über Produktivität sprechen und darüber, was wir machen können, um sie anzukurbeln. Ganz im Gegenteil. Ich beobachte sehr viele Maßnahmen, um sie aktiv niedrig zu halten.
Zum Beispiel?
Wir halten eigentlich überholte Industrien am Leben, Stichwort: Kurzarbeit. Das war in der Pandemie eine Überbrückungshilfe, aber es gibt sie immer noch. Kurzarbeit bedeutet allerdings, dass ich Arbeitnehmer habe, die ich nicht produktiv einsetzen kann und der Staat bezahlt mir das. Das ist schwachsinnig. Was passiert in den USA? Diese Menschen, so hart das klingt, verlieren ihren Job und finden einen neuen. Und statistisch gesehen verdienen sie in diesem neuen Job mehr Geld und sind produktiver. Das ist wie eine Verjüngungskur für die Wirtschaft. Das findet in Deutschland nicht statt. Die Arbeitsmarktdynamik hat deutlich nachgelassen, sogar in Krisenzeiten. Daran sind aber auch die Unternehmen schuld.
Stepstone ist eine große Jobplattform mit einem riesigen Fundus an Daten. Inwieweit merken Sie einen Unterschied in der Arbeitsmoral der verschiedenen Generationen?
Es hat sich eine Menge verändert. Die Arbeitslosigkeit befindet sich trotz wirtschaftlich schwieriger Zeit immer noch in einem Rekordtief. Dadurch haben Arbeitnehmer die Möglichkeit, Bedürfnisse und Wünsche ganz anders zu artikulieren, als das vor 20 Jahren der Fall war. Genau das tut die sogenannte Generation Z. Allerdings haben sich die Bedürfnisse junger Menschen in den letzten 20 Jahren nicht so sehr verändert. Was anders ist: Wir haben heute andere Lebensformen. Wir haben heute häufig Beziehungen, in denen beide Partner berufstätig sind. Das erhöht den Wunsch nach einem gewissen Maß an Flexibilität. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie schafft man es, erziehenden Menschen, egal ob Mütter oder Väter, den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu erleichtern? Die wichtigsten Bedürfnisse, die auch junge Arbeitnehmer haben, sind klassisch Jobsicherheit und vernünftiges Gehalt. Danach kommen andere Themen, wie Flexibilität oder Sinnhaftigkeit.
Mit Sebastian Dettmers sprach Janna Linke. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Vollständig können Sie es im ntv-Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich" anhören.
Was verbirgt sich hinter der schillernden Fassade der Startup-Szene? Janna Linke weiß es. Im Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich" wirft sie jede Woche einen Blick hinter die Kulissen der Gründerszene und spricht über Themen, die gerade Schlagzeilen machen. Sie ordnet ein, hakt nach. Persönlich, ehrlich und mit einem echten Mehrwert. Dafür spricht sie mit Persönlichkeiten der Szene, Expertinnen und Experten und gibt euch den absoluten Rundumblick. Gemeinsam taucht ihr tief ein in die Startup-Welt.
"Startup - jetzt ganz ehrlich" - der Podcast mit Janna Linke. Auf RTL+ und überall, wo es Podcasts gibt: Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Quelle: ntv.de