Leben

Psychisch krank und ohne Wohnung Besondere Freundschaft rettet Obdachlosen

Autorin Katja Hübner auf Marcs Bank im Hamburger Schanzenviertel.

Autorin Katja Hübner auf Marcs Bank im Hamburger Schanzenviertel.

(Foto: Florian Weinert / Random House)

Marc ist 27 Jahre alt, trägt selbst im Hochsommer mehrere Jacken plus Wollmütze und lebt verwahrlost auf einer Parkbank im Hamburger Schanzenviertel. Dort wird Katja Hübner auf ihn aufmerksam. Schnell ist der Grafikerin klar: Sie will Marc helfen. Doch das ist nicht so einfach, denn der junge Mann ist an einer Psychose erkrankt. Ihre Erfahrungen hat Hübner in dem Buch "Okay. Danke. Ciao! Eine Geschichte über Freundschaft und Obdachlosigkeit" aufgeschrieben. Mit ntv.de spricht sie über ihre vorsichtige Annäherung voller Rückschläge und darüber, wie sie Marc vor dem Kältetod gerettet und in die Psychiatrie begleitet hat.

Wo sind Sie Marc das erste Mal begegnet?

Alleine in Hamburg leben ungefähr 2000 Menschen auf der Straße.

Alleine in Hamburg leben ungefähr 2000 Menschen auf der Straße.

(Foto: picture alliance/dpa)

Ich habe ihn das erste Mal im Sommer 2017 bei mir um die Ecke am Rande des Schanzenviertels wahrgenommen, da ist eine kleine Hundewiese, an der ich morgens auf dem Weg zur Arbeit vorbeikomme. Er ging ganz langsam und abwesend an mir vorbei und ich fand irgendwas merkwürdig an ihm.

Was genau war das?

Er passte für mich in keines der Raster, die man ja leider im Kopf hat. Er war weder dieser alkoholkranke Obdachlose, noch sah er aus wie ein Junkie, der auf der Straße gelandet ist - das soll jetzt überhaupt keine Bewertung sein. Ich habe mich gefragt: Was macht dieser junge Mann, viel zu dick angezogen und verwirrt an dieser Stelle? Das hat mich irritiert und irgendwas hat mich dann wahrscheinlich auch interessiert.

Dann haben Sie Kontakt zu ihm aufgenommen.

Ja, ein paar Tage später habe ich ihn auf dem Weg zur Arbeit wiedergesehen. Er lag auf der Wiese und guckte in den Himmel. Ich bin aus einem Impuls heraus einfach hingegangen und habe gefragt "Ist alles ok bei dir?". Er hat ganz freundlich "alles super" geantwortet und mich nach einer Zigarette gefragt. Ich habe ihm eine gegeben und meinte, ob ich kurz bei ihm sitzen bleiben darf. Dann habe ich aber gemerkt, dass er nicht so richtig reden will und bin weitergegangen. So ging es ganz allmählich los, dass ich an den folgenden Tagen immer kurz bei ihm stehengeblieben bin.

Sie haben bald festgestellt, dass Marc nichts außer seiner Kleidung besitzt.

Genau, fast alle Obdachlosen haben ja irgendwo noch ein Wägelchen oder so. Aber Marc hatte tatsächlich nichts, weder einen Schlafsack noch eine Tüte. Er lag einfach nur auf der Bank oder der Wiese mit seinen drei Schichten Klamotten. Dann habe ich gesehen, dass er sich aus Mülltonnen Essen holt und ausgetretene Kippen vom Boden aufsammelt. Und das wollte ich so nicht stehenlassen.

Monatelang haben Sie Marc täglich mit Essen und Getränken versorgt. Ihre Annäherung war sehr vorsichtig und es gab viele Rückschläge, darauf spielt auch der Titel Ihres Buches "Okay. Danke. Ciao!" an. Was hat es damit auf sich?

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Das war Marcs Standardantwort. Er hat ja wenig geredet und immer, wenn ich versucht habe, ein bisschen auf seine Situation einzugehen und nachzufragen, dann kam sein "Okay, danke, ciao". Er hat sich da oft abgegrenzt und es war auch eine Abweisung. Das macht natürlich was mit einem, wenn man eigentlich jemandem was Gutes will, und dann weggeschickt wird. Aber ich fand, es geht um ihn und nicht um mich und meine Befindlichkeiten. Mir war klar, dass ich das aushalten muss.

Viele Menschen hätten wahrscheinlich irgendwann aufgegeben. Warum Sie nicht?

Weil diese täglichen kleinen Kontakte irgendwann schon so etwas wie eine Beziehung waren. Ich habe mich tatsächlich für ihn verantwortlich gefühlt. Ich wusste immer, dass ich es nicht bin, aber ich konnte es nicht abschütteln. Es war für mich so, als würde ein Freund von mir auf dieser Bank sitzen, im Regen, ohne Essen, ohne alles. Für mich gab es gar nicht die Option, Marc alleine zu lassen.

Marc leidet an einer Psychose und Sie haben versucht, von offizieller Seite Unterstützung zu bekommen. Warum hat das nicht geklappt?

Es ist ein generelles Problem, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung oft genau wegen ihrer Erkrankung auf der Straße landen, weil sie das tägliche Leben nicht mehr bewältigen, sich nicht mehr um Mietzahlungen oder Ämtergänge kümmern können. Und dann fallen sie wirklich durch jedes Raster. In der Psychiatrie heißt es, diese Menschen müssen freiwillig kommen. Aber wer an einer Psychose erkrankt ist, hat in der Regel keine Krankheitseinsicht, leidet oft unter Verfolgungswahn und geht nicht in eine Psychiatrie, um sich behandeln zu lassen. Und zum Schutz der Menschenrechte kann man nicht einfach eingewiesen werden. Dann müsste derjenige schon extrem selbstgefährdend sein. Ich fand allerdings die Tatsache, dass Marc monatelang ungeschützt auf einer Bank saß, schon selbstgefährdend.

Als mit dem Winter dann die Minustemperaturen kamen, wurde es für Marc lebensgefährlich. Wie haben Sie es geschafft, ihn vor dem möglichen Kältetod zu retten?

Nachdem ich erfolglos bei Ämtern, Sozialarbeitern und der Diakonie angerufen hatte, habe ich über eine Ärztin von der Berliner Charité den Kontakt zu Professor Bock (dem Leiter der sozialpsychiatrischen Ambulanz am UKE in Hamburg, Anm. d. Red.) vermittelt bekommen. Das erste Mal seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass da jemand wirklich helfen will und Marcs Problem versteht. Gemeinsam haben wir es geschafft, dass es über eine Richterin zu einer Einweisung kam. Marc ist dann zum Schluss auch freiwillig mitgegangen.

Er war dann ja eine ganze Zeit in der Psychiatrie und Sie haben ihn weiterhin besucht und begleitet. Was haben Sie dort für Erfahrungen gemacht?

Zu Beginn war das für mich schwierig, ich hatte große Berührungsängste mit all diesen "verrückten" Menschen. Mit der Zeit habe ich sie dann aber gar nicht mehr als "verrückt" wahrgenommen. Das wurden dann Menschen, denen ich täglich begegnet bin und die ich irgendwann nur noch in "den mag ich", "den finde ich eher unsympathisch" und "der nervt mich" unterschieden habe. Das habe ich als große Bereicherung empfunden, weil ich da viel gelernt habe.

Inwieweit hat die Begegnung mit Marc Sie selbst verändert?

Sicher hat es meinen Blick auf Obdachlose verändert, ich nehme viel mehr wahr. Dass bedeutet aber nicht, dass ich jetzt bei jedem Obdachlosen stehenbleibe und versuche zu helfen. Das wäre in Hamburg eine Sisyphusarbeit. Es hat aber auch ein bisschen meinen Blick darauf verändert, was ich von anderen erwarte. Was ich gut und wichtig fände, muss für den anderen nicht gut sein. Marc musste ich irgendwann loslassen und sagen, so ist er. Er muss nicht auch noch eine Ausbildung machen, um meiner Vorstellung von "normal" oder "gesund" zu entsprechen.

Wie hat Ihr Umfeld auf Ihr Engagement reagiert?

Während dieser ganzen Zeit habe ich viel darüber geredet, das hat mich sehr beschäftigt - und alle haben nachgefragt und ein wahnsinniges Interesse gezeigt. Das war dann auch der Grund, dass ich die Geschichte irgendwann aufgeschrieben habe. Meine Familie und die engsten Freunde hatten natürlich zwischenzeitlich auch mal Sorge, dass mir das Ganze zu nahe geht, dass ich da scheitern könnte.

Wie geht es Marc heute? Haben Sie noch Kontakt?

Ja, wir haben Kontakt. Er ist in einem betreuten Wohnen. Er ist immer noch eingeschränkt und etwas antriebslos. Das hat natürlich auch mit den Medikamenten zu tun. Und mit dem betreuten Wohnen, das hat ein bisschen was von Aufbewahrung. Da könnte man einiges verbessern. Aber ich glaube, Marc ist momentan erstmal ganz zufrieden.

Mit Katja Hübner sprach Katja Sembritzki

Quelle: ntv.de

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