Von unnötigen Rettungseinsätzen "Bleibt die jetzt doof?"
22.10.2021, 19:06 Uhr
Viele Menschen wählen die 112, obwohl es sich eindeutig nicht um einen Notfall handelt.
(Foto: imago images/Michael Gstettenbauer)
Im Notfall ist die 112 die Nummer der Wahl. Doch Menschen wählen nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen den Notruf, sondern nur allzu oft wegen Lappalien. In seinem neuen Buch "Jackie hat Hirn erbrochen - bleibt die jetzt doof?" hat Notfallsanitäter und Autor Jörg Nießen so einige skurrile Einsätze niedergeschrieben. Warum Menschen wegen Kleinigkeiten den Rettungswagen rufen und wie sich solche unnötigen Einsätze auf das berufliche Selbstverständnis auswirken, erzählt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Was lieben Sie an Ihrem Beruf als Notfallsanitäter?
Jörg Nießen: Der Zivildienst hat mich sehr geprägt. Was ich vorher nicht kannte, war diese Kameradschaft, dieses Gruppengefühl. Das hat mich sehr begeistert. Außerdem bekomme ich sehr schnell Rückmeldungen, ob ich Erfolg habe oder nicht. Und bei diesem Job ist das verbunden mit einem sinnvollen Thema, nämlich Menschen zu helfen.
Der Titel Ihres Buches erzählt von Jackie, die ihr Hirn erbrochen hat. Was steckt dahinter?
Das ist ein provokanter Titel, worüber ich mir durchaus bewusst bin. Es ist die Geschichte von zwei Zwillingsschwestern, die ein bisschen zu viel getrunken hatten. Die eine behielt leider nicht das bei sich, was sie im Nachtleben konsumiert hatte. Ihre Schwester hielt das, was sie erbrochen hatte, für Hirn. Ihrer Ansicht nach sah es optisch so aus. In ihrer Not rief sie dann den Rettungswagen. "Bleibt die jetzt doof?" ist ein O-Ton, der bei mir hängengeblieben ist.
Was ist eigentlich die erste Reaktion, wenn man zu so einem Einsatz kommt? Findet man das lustig oder macht einen das wütend?
In dem Fall war es eher lustig. Man kommt an und stellt fest: Es ist harmloser als gedacht, bis auf eine Alkoholvergiftung vielleicht. Natürlich bindet auch dieser Einsatz wertvolle Ressourcen. Man muss aber auch sagen, dass die junge Frau, die uns gerufen hatte, sich in einer Ausnahmesituation befand - auch wenn wir das anders betrachten. Es gilt aber der Grundsatz: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig anrufen.
Gibt es weitere Geschichten, die Sie heute noch zum Lachen bringen?
Da ist das Buch voll von. Meine Lieblingsgeschichte: Zwei Senioren rufen an, die mit Drogen rumexperimentierten, die sie sich im Internet bestellt hatten. Im Verlauf des Abends hatten sie nun Sorge, die Nacht nicht mehr zu überleben. Dann riefen sie den Rettungswagen. Als wir ankamen, wollten sie aber nicht ins Krankenhaus transportiert werden, sondern dass wir die ganze Nacht bei ihnen bleiben und auf sie aufpassen. Das ist so schräg, dass ich da schon drüber lachen muss. Irgendwann kann ich das nur noch mit Humor nehmen. Ein anderes Beispiel: Ein Löschzug wird alarmiert, weil jemand auf Google Earth eine Rauchsäule entdeckt hat und das Ganze für ein Livebild hält. Er glaubt, dass in der Nachbarschaft ein Haus abbrennt. Es hätte gereicht, mal ans Fenster zu gehen.
Es gibt auch eine wunderbare Geschichte von einer älteren Dame, die uns nicht gerufen hat, aber so ein Notrufgerät mit Sturzerkennung am Handgelenk trugt. Wenn man fällt, erkennt das Gerät das. Die Dame war aber irgendwann genervt davon und pfefferte das Ding in die Ecke. Das Gerät alarmierte daraufhin den Hausnotruf. Da kamen auch noch die Feuerwehr, der Rettungsdienst und die Polizei ins Spiel, weil gewaltsam in die Wohnung eingestiegen werden musste. Ich bin auch schon zu einer Reanimation gefahren, die keine war, weil jemand in einem Trainingszentrum für Ärzte dachte, dass da keine Puppe, sondern ein Mensch reanimiert wird. Dann kommt man hin und stellt fest, dass es sich nur um eine Übung handelt.
Ärgern Sie sich nicht auch mal über unnötige Einsätze?
Es gibt natürlich auch Einsätze, die wirklich unnötig sind und über die ich mich ärgere. Dann kommt auch die Resignation darüber, dass die Selbstständigkeit in der Gesellschaft nachlässt. Wenn man sich mit einem Küchenmesser in den Finger schneidet, dann ist das kein Grund, den Rettungswagen zu rufen. Dasselbe gilt auch, wenn ich mehr Haare in der Bürste finde als am Vortag und kein Chemotherapie-Patient bin. Da kommen einem im Laufe der Jahre Situationen entgegen, wo man sich fragt: "Was mache ich hier?" Ich bearbeite lieber den akuten Schlaganfall, also einen Menschen, der mich wirklich braucht, als das akute Unwohlsein nach einer schiefgelaufenen Betriebsfeier.
Warum rufen Menschen Ihrer Meinung nach manchmal den Notruf, obwohl offensichtlich keinerlei Gefahr für die Gesundheit besteht?
Das ist ein Problem von Selbstständigkeit. Es mag schon berechtigte Situationen geben, wo man ins Krankenhaus muss, aber nicht weiß, wie man da hinkommt - etwa, wenn man sich den Fuß umgeknickt hat. Dennoch: Früher wäre niemand auf die Idee gekommen, in so einer Situation den Rettungswagen zu rufen. Man hätte jemanden angerufen, der einen ins Krankenhaus fährt. Es gibt inzwischen viele Menschen, die sich in Alltagssituationen einfach nicht mehr zu helfen wissen. Man bekommt heutzutage in dieser Gesellschaft alles abgenommen. Es gibt für alles einen Dienstleister oder eine Hotline und wenn ich dann betroffen bin, rufe ich halt einen Rettungswagen.
Viele Menschen haben anscheinend Probleme, herauszufinden, wann es angebracht ist, den Rettungswagen zu rufen. Können Sie das nachvollziehen?
Absolut. Dass Dinge von Notrufern anders beurteilt werden als von mir, ist natürlich klar. Es wäre unfair, meinen Erfahrungshorizont als Maßstab zu nehmen. Deshalb bleibt es dabei: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig die 112 anrufen. Manchmal kann man auch nur hinfahren und erst dann rausfinden, ob der Einsatz notwendig ist. Es gehört zu dem System dazu, dass wir zu Einsätzen fahren, die eigentlich unnötig waren. Die Schwelle wird nur dann überschritten, wenn Dreistigkeit und völlige Unselbstständigkeit im Spiel sind. Es gibt auch den ganz dreisten Anrufer, der mir im Rettungswagen dann sagt, dass er dank eines Rettungswagens schneller im Krankenhaus behandelt wird - übrigens ein Trugschluss. Manche wollen sich auch nur das Geld für ein Taxi sparen. Was ich mit Bequemlichkeit meine, ist zum Beispiel im Folgenden der Fall: Es geht jemand durch die Stadt und sieht einen Obdachlosen, um den er sich Sorgen macht. Jetzt kann man denjenigen aber ansprechen und fragen, ob es ihm gut geht. Viele rufen aber dann lieber den Rettungswagen, weil er seit einer Stunde dort liegt und sich vermeintlich nicht mehr bewegt. Dann stellt sich auf Nachfrage heraus, dass der Obdachlose lediglich in Ruhe schlafen möchte. Auf die Frage, warum der Passant angerufen hat, kommt dann häufig als Antwort, dass man Angst hatte, den Obdachlosen anzusprechen, weil man nicht weiß, wie der reagiert. Eine einfache Frage hätte gereicht, um die Situation zu klären - dafür braucht es nicht den Rettungsdienst.
Ich wünsche mir, dass die Menschen öfter mal ihren Kopf anschalten und den gesunden Menschenverstand walten lassen und sich fragen: "Kann ich mir selbst helfen, ohne mich in Gefahr zu bringen?" Wenn ein Papierkorb brennt, kann man da auch mal eine mit Wasser gefüllte Gießkanne drüberschütten. Ein anderes Beispiel: Wenn man einen Rauchmelder in der Wohnung hat und der alle drei Minuten einen leisen Pieps von sich gibt, dann ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Batterieproblem und kein Wohnungsbrand.
Haben Sie Stammkunden, die immer wieder anrufen?
Die gibt es. Das ist eine Herausforderung, weil man sich nie sicher sein kann, ob etwa beim 37. Notruf dann nicht doch ein Herzinfarkt dahintersteckt. Dann muss ich zumindest ein gewisses Verständnis für die Kollegen in der Leitstelle haben, weil die auch keine andere Wahl haben, als mich zu schicken. Oftmals fahre ich dann mal wieder zu Frau Müller und wieder wird sie nur quatschen wollen, weil sie einsam ist. Das ist ärgerlich, weil damit Ressourcen gebunden werden. Wenn Sie zwei Straßen weiter einen Fahrradunfall haben, warten Sie dann eben länger auf den Rettungswagen, weil Frau Müller einsam ist.
Müssen solche sinnlosen Einsätze eigentlich vom Verursacher bezahlt werden?
Nein. In dem Fall mit der automatischen Sturzerkennung im Gerät hatte die Dame uns zum Beispiel gar nicht gerufen. Bezahlen muss man, wenn man den Notruf böswillig missbraucht. Alles andere nennt man "im guten Glauben".
Zweifeln Sie manchmal an Ihrem Beruf wegen solcher unnötigen Einsätze?
Es gibt solche Tage. Ich übe meinen Beruf aber immer noch gerne aus und das kann ich auch guten Gewissens sagen. Natürlich gibt es auch Schichten, wo man sich nach Feierabend denkt: "Heute hast du nicht mal den Notfall-Rucksack aufgemacht und alles, was du heute getan hast, hätte auch ein Taxifahrer mit gesundem Menschenverstand erledigen können". Das nagt dann auch am beruflichen Selbstverständnis. Ich versuche, viele Dinge mit Humor zu betrachten und bin deshalb noch nicht ausgebrannt. Es gibt aber auch Kollegen, denen das nicht so gut gelingt und die den Beruf nicht ewig ausüben. Ich verarbeite das Erlebte auch ein bisschen mit dem Schreiben. Bei den ersten Büchern hatte ich das noch abgestritten. Aber heute sage ich, dass es hier und da autobiografische Züge gibt.
Was sind denn die Kriterien für einen echten Notfall, bei dem die Wahl der 112 gerechtfertigt ist?
Sind Sie noch in der Lage, sich selbst zu helfen? Hatten Sie das schon mal? Wenn Sie regelmäßig Bauchschmerzen haben, dann stelle ich mir die Frage, warum Sie nicht vorher zum Arzt gegangen sind. Kamen die Bauchschmerzen dagegen aus dem Nichts, dann ist das vielleicht ein Problem mit dem Blinddarm und es ist gut, dass ich komme. Die 112 zu wählen, ist vor allem dann sinnvoll, wenn die Situation für Sie nicht beherrschbar ist. Kann vielleicht auch der ärztliche Notdienst (Telefon 116 117) helfen? Ich habe schon Leute wegen Lappalien ins Krankenhaus gefahren, die direkt gegenüber wohnen. Diejenigen haben länger auf mich gewartet, als sie brauchen würden, um zu Fuß ins Krankenhaus zu gehen. Immer dann, wenn viel Blut fließt, die Atmung, der Kreislauf oder das Bewusstsein betroffen sind und es sich irgendwie lebensbedrohlich anfühlt, sollten Sie sofort und ohne Zögern die 112 rufen.
Mit Jörg Nießen sprach Isabel Michael
Quelle: ntv.de