
Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl sieht Selbstwertgefühl, Liebe und Bindungsangst als ihre "Spezialgebiete".
(Foto: Susanne Wysocki Fotografie)
Das fünfte Jahr in Folge ist das Buch "Das Kind in dir muss Heimat finden" auf Platz eins der meistverkauften Paperback-Sachbücher. Autorin Stefanie Stahl fand mit Schatten- und Sonnenkind Bilder für großen Kummer und tiefe Sehnsucht.
Schon im Oktober war es abzusehen: Auch 2021 würde es wieder einen klaren Verkaufssieger beim Paperback-Sachbuch geben. Und es würde wieder der gleiche Titel sein wie in den vorangegangenen vier Jahren: "Das Kind in dir muss Heimat finden" von Stefanie Stahl. Mehr als zwei Millionen Exemplare sind davon seit dem Erscheinen des Buches im Herbst 2015 verkauft worden, allein mehr als 450.000 Bücher und Hörbücher in diesem Jahr.
Stahl erinnert sich noch heute an den Moment in ihrer Praxis, der den Grundstein zu dem Bestseller lieferte. "Das war fast wie eine Eingebung in der psychotherapeutischen Arbeit mit einer Klientin", erzählt die Psychologin und Therapeutin ntv.de. "Sie kam und wollte an diesem Tag etwas sehr Konkretes machen." Stahl, die sich selbst als "Sprech-Denkerin" bezeichnet, hörte sich sagen: "Jetzt nehmen Sie mal einen Zettel und malen die Silhouette eines Kindes darauf. Rechts und links kommen Mama und Papa hin und dann spüren wir mal, wie die so drauf waren."
Schon die dabei aufkommenden Gefühle ließen bei der Frau Tränen fließen. Stahls nächste Frage war, was ihre Klientin tut, um die schmerzhaften Gefühle zu vermeiden, die das auslöste. "Sie antwortete: Ich versuche, perfekt zu sein und gehe Konflikten aus dem Weg." Das wurde zu Füßen des Kindes notiert. "Dann sagte die Frau: Das ist Wahnsinn, das bin wirklich ich, das ist mein ganzes Programm. Und ich dachte, das ist großartig, das muss ich weiterentwickeln." Die Idee zu "Das Kind in dir muss Heimat finden" war geboren.
Schattenkind und Sonnenkind
Die kindliche Silhouette ist bis heute im Einband der Bücher zu finden - vorn das Schattenkind, wie es Stahl nennt, hinten das Sonnenkind. Beide stehen für verschiedene Seiten des inneren Kindes. Den Begriff hatten die US-Psychologinnen Erika Chopich und Margaret Paul in ihrem Buch "Aussöhnung mit dem inneren Kind" aus dem Jahr 1990 geprägt. "Das innere Kind beschreibt ein altes Gefühl. Ich werde in meinem Gefühl getriggert, nicht richtig oder minderwertig zu sein, und fühle mich dann schlecht oder beschämt oder wütend", erläutert Stahl den Ansatz aus der Transaktionsanalyse.
Doch dabei wollte es Stahl nicht lassen. "Ich habe aus der ganzen Systematik mit dem Sonnenkind und dem Schattenkind ein ganz eigenes Modell gemacht", beschreibt sie den Prozess. Die Psychologin fügte die Glaubenssätze hinzu, mit denen viele Menschen durchs Leben gehen, und entwickelte Selbstschutzstrategien, die sich jede Leserin und jeder Leser selbst aneignen können sollte. "Ich habe das alles miteinander in ein großes Bild, in ein Verhaltensprogramm gebracht", sagt die Therapeutin.
Für die negativen Prägungen verwendete sie den Begriff des Schattenkinds, für die Vision eines gesunden Selbst durch Selbstheilung den des Sonnenkinds. "Das Sonnenkind steht natürlich auch für unsere positiven Prägungen und unsere gesunden Anteile, die wir ja auch alle haben", so Stahl. Aber es sei eben auch eine Zielversion "unseres authentischen Selbst". Sie wollte, dass es nicht bei diesem verletzten inneren Kind bleibt.
Irgendwann hatte sie eine Problemlösestrategie, ein übergeordnetes Modell, von dem sie hoffte, dass es möglichst viele Menschen nutzen können. Den Ansatz verfolgt Stahl bis heute. "Ich sage immer mit einem Augenzwinkern, meine Bücher sind Therapie zum Selbermachen für alle Normalgestörten." Jeder und jede könne mit dem eigenen Thema arbeiten - Ängste, Liebeskummer, depressive Verstimmungen, Ärger mit dem Chef. "Und ich gebe lediglich die Lösungsstruktur vor."
Ein Jahr bis Platz 1
Im November 2015 erschien das Buch und war zunächst alles andere als eine Sensation. Das Presseecho hielt sich in überschaubaren Grenzen, die Vorverkäufe an den Buchhandel auch. Stahl erinnert sich an die Enttäuschung und an die Sorge, ihr Verlag könnte sie fallenlassen. "Doch dann passierte etwas Unglaubliches, das Buch verkaufte sich." Nach drei Monaten war es auf Platz 15 der "Spiegel"-Bestsellerliste, im April 2016 unter den Top 5, nach einem Jahr auf Platz 1.
Wer heute eines der Bücher kauft, hält die 37. Auflage in den Händen. In 30 Ländern ist der Titel erschienen, in diesem Jahr auch in den USA. Dafür hat die Autorin die knapp 290 Seiten nach Jahren selbst noch einmal gelesen. "Ich dachte, ich würde heute vieles anders machen. Aber ich war überrascht, dass mir nichts eingefallen ist."
Bei den Onlinebuchhändlern beschreiben viele Leserinnen und Leser das Buch als lebensverändernd. Stahl selbst legt ihr Buch auf den ersten Seiten vor allem Menschen ans Herz, deren Probleme "hausgemacht" sind, die also im weitesten Sinn innerhalb der eigenen Verantwortung liegen. Dazu zählt sie beispielsweise Beziehungsprobleme, Stress oder auch mangelnde Lebensfreude. Bei schweren Traumata oder Gewalterfahrungen ist es sicher besser, individuelle therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Das Interesse ihrer Leserinnen und Leser kann die Autorin gut verstehen, weil sie es teilt. In ihrem nächsten Buch, das 2022 erscheinen soll, will Stahl auch deshalb erklären, wie die Psyche des Menschen funktioniert, und ihre psychotherapeutische Arbeit darin offenlegen. "Wir sind Körper und Geist und Geist könnte man auch mit Psyche ersetzen. Wie kann man sich nicht dafür interessieren? Das ist doch das, was uns ausmacht", beschreibt sie leidenschaftlich, was sie umtreibt. "Das Elend dieser Welt hängt daran, dass viel zu viele Menschen unreflektiert durch die Gegend rennen und deswegen viele Gesellschaften und unseren Planeten an die Wand fahren."
Inszenierung der Schattenkinder
Dabei sei es wichtig, die eigenen Muster zu erkennen, weil man sonst alles glaubt, was man denkt. Denn das menschliche Gehirn interessiere sich nicht für Realität, "sondern will im Gleichgewicht bleiben". Deshalb werde alles mit alten Erfahrungen abgeglichen. "Wenn die sehr schlecht waren und wir als Kinder abgelehnt wurden, rechnet das Gehirn noch immer zuerst mit Ablehnung und wir versuchen das zu vermeiden." Beispielsweise durch Perfektion, makelloses Aussehen, Konfliktscheu oder auch die ständige Suche nach dem Konflikt.
Bei vielen, die in der Corona- oder Impfdebatte sehr laut sind, vermutet Stahl genau das. "Es werden genau solche Bedürfnisse bedient, das Bedürfnis nach Kontrolle, ich bin autonom und gehorche nicht, ich brauche absolute Kontrolle, dahinter steckt mangelndes Vertrauen, auch ein mangelndes Selbstvertrauen. Und das Bedürfnis nach Einmaligkeit, ich bin der Rebell, ich bin der, der alles durchschaut." Das alles sei eine Rieseninszenierung der Schattenkinder dieser Menschen.
"Deshalb ist mir schleierhaft, wie man Psychologie nicht ernst nehmen kann." Sie selbst tut das immer und wappnet sich so auch für den irgendwann unausweichlichen Moment, wenn ein anderes Buch ihres vom Bestsellerthron schubsen wird. "Das menschliche Gehirn funktioniert ja so, Platz eins ist jetzt selbstverständlich, bei Platz zwei kommt die Frage: Was ist denn jetzt los? Ich bin gespannt, was mit meinem armen Ego geschieht, wenn es irgendwann mal runter geht", erklärt sie lachend.
In jedem Fall ist sie sehr dankbar für ihren großen Erfolg. Dankbarkeit ist ihr sowieso ein wichtiges Anliegen. "Hirntechnisch macht es ja total Sinn, Dankbarkeitstagebücher zu führen, um das Gehirn zu trainieren, das Positive zu sehen und nicht zu schnell als selbstverständlich abzuspeichern. Wir sehen viel zu viel als selbstverständlich. Wir müssten uns jeden Tag freuen, wenn wir in einem warmen Raum aufwachen, etwas zu Essen und Wasser haben."
Quelle: ntv.de