Unwetterkatastrophe in Libyen "Überall liegen Leichen" - Tausende Tote und 10.000 Vermisste
12.09.2023, 15:35 Uhr Artikel anhören
Das Ausmaß der verheerenden Überschwemmungen in Libyen wird immer deutlicher. Behörden sprechen von mindestens 2300 Toten allein in der Stadt Derna. "Die Lage ist sehr katastrophal", sagt ein Minister. Er rechnet damit, dass die endgültige Zahl der Opfer "sehr, sehr hoch" sein werde.
Durch die verheerenden Überschwemmungen im Osten Libyens sind Tausende Menschen ums Leben gekommen. Rettungskräfte meldeten allein aus der Hafenstadt Derna mehr als 2300 Tote und rund 7000 Verletzte. Mehr als 5000 Menschen würden noch vermisst, teilte ein Sprecher der libyschen Not- und Rettungsdienste mit. Auch das Internationale Komitee von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond befürchtet "tausende" Todesopfer. Es würden etwa 10.000 Menschen vermisst. Mehr als 300 Opfer wurden bereits in Massengräbern beerdigt, wie das libysche Portal "Babwat Al-Wasat" berichtet.
"Die Lage ist sehr katastrophal. Überall liegen Leichen - im Meer, in den Tälern, unter den Gebäuden", sagte der Luftfahrtminister der im Osten herrschenden Regierung, Hichem Chkiuat. Er rechne damit, dass die endgültige Zahl der Opfer "sehr, sehr hoch" sein werde. "Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass 25 Prozent der Stadt verschwunden sind." Viele Gebäude seien eingestürzt.
Die an der Küste gelegene Großstadt Derna befindet sich 900 Kilometer östlich der libyschen Hauptstadt Tripolis und zählt 100.000 Einwohner. Oberhalb der Stadt wurden nach Angaben der Libyschen Nationalarmee ganze Stadtteile mit ihren Bewohnern ins Meer gespült. Die Regenfälle ließen ein durch die Stadt führendes Flussbett über die Ufer treten. Zwei Staudämme sollen gebrochen sein. Videos und Fotos in sozialen Medien zeigten ein katastrophales Ausmaß der Zerstörung der Küstenstadt infolge der Regenfälle: zerstörte Häuser und Autos in von Schlammmassen überschwemmten Straßen.
Die Rettungsmaßnahmen gestalten sich nach Angaben des Notfalldienstes schwierig. Die Helfer seien demnach auf die Unterstützung von Hubschraubern angewiesen. Strom und Internetverbindung sind unterbrochen. Wie auf von Medien verbreiteten Aufnahmen zu sehen war, überfluteten die Wassermassen zahlreiche an den Ufern gelegene Gebäude.
Überflutungen auch in Bengasi
Der Sturm "Daniel" hatte Libyen am Sonntag erfasst. Die Regierung in der Hauptstadt Tripolis unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba sprach von den schwersten Regenfällen seit mehr als 40 Jahren. Nach Angaben der Behörden wurden Hunderte Menschen in schwer zugänglichen Gebieten der Region von der Außenwelt abgeschnitten. Rund um die Küstenstadt Dschabal Al-Achdar und in den Vororten der Stadt Al-Mardsch gab es zahlreiche Opfer. Auch die Hafenstadt Bengasi war betroffen. Dort wurde eine Ausgangssperre verhängt, die Schulen wurden geschlossen.
Die internationale Hilfe läuft inzwischen an. Die Türkei organisierte die Entsendung von Rettungskräften. Man habe Flüge mit Bergungstrupps samt Rettungsbooten, Zelten und Versorgungsgütern an Bord organisiert, teilte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf der Onlineplattform X, vormals Twitter, mit.
EU und Deutschland bieten Hilfen an
Die EU bietet dem von Unwettern schwer getroffenen Libyen Hilfe an. "Wir sind bereit, unsere Partner vor Ort umgehend zu unterstützen", teilt der für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic auf der Online-Plattform X mit. Ähnlich äußerte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.
Auch die Bundesregierung prüft nach Angaben aus dem Auswärtigen Amt derzeit Hilfsmaßnahmen für Libyen. "Die Berichte aus dem Katastrophengebiet sind bestürzend", heißt es dort. "Wir stehen dazu in engem Kontakt mit der libyschen Regierung und internationalen Partnerorganisationen." Allerdings sei die Lage in den von den Fluten besonders betroffenen Gebieten teils weiterhin unübersichtlich. "Innerhalb der Bundesregierung stimmen wir aktuell ab, wie wir dem Ersuchen der libyschen Regierung um internationale Hilfe nachkommen können, insbesondere, was die größten Bedarfe sind und wo wir gezielt Unterstützung leisten können."
Ebenso kündigt das Rote Kreuz einen Aufruf zur Soforthilfe an. Nötig sei die Bereitstellung von Unterkünften und medizinischer Versorgung sowie die Lieferung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern, sagt der für Libyen zuständige Leiter der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften IFRC, Tamer Ramadan.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach dem "libyschen Volk" seine "Solidarität" aus und erklärte, das Land mobilisiere Ressourcen, um Soforthilfe zu leisten. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, sprach den Betroffenen sein "Mitgefühl und Beileid" aus und erklärte, Washington arbeite mit den Vereinten Nationen und den libyschen Behörden zusammen, um Hilfe zu leisten.
Der Chef des Präsidialrats, Mohamed al-Manfi, bat bei Facebook "brüderliche und befreundete Länder und internationale Organisationen" um Hilfe. Ein Beamter des Stadtrats in Bengasi unterstrich im TV-Sender Libya al-Ahrar die Notwendigkeit einer "nationalen und internationalen Intervention".
Jahrelanger Bürgerkrieg spaltet den Ölstaat
In Libyen war nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 ein Bürgerkrieg ausgebrochen. 2018 wurde Derna bei Kämpfen zwischen Truppen des im Osten mächtigen Generals Chalifa Haftar und islamistischen Kämpfern schwer beschädigt.
In dem ölreichen Staat in Nordafrika ringen bis heute zahlreiche Milizen um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen mit jeweils einem Sitz im Osten und Westen um die Macht. Alle diplomatischen Bemühungen, den Konflikt friedlich beizulegen, scheiterten bisher. Der Konflikt wird durch ausländische Staaten zusätzlich befeuert. Im Osten Libyens befinden sich die größten Erdöl-Felder und Hafenterminals für den Ölexport. Die nationale Ölfördergesellschaft (NOC) verhängte angesichts der Überschwemmungen die höchste Alarmstufe und fuhr die Förderaktivität deutlich zurück.
Quelle: ntv.de, rwe/dpa/AFP/rts