Angst erreicht die IdylleAbspecken im Stuttgarter Umland

Der Stuttgarter Speckgürtel lebt von Autoindustrie, Maschinenbauern, erfolgreichen Mittelständlern - und zwar sehr gut. Doch selbst hier sorgt der bevorstehende Lockdown für Unruhe. Denn er droht das für den Einzelhandel so wichtige Weihnachtsgeschäft zu ersticken.
Weihnachtsbäume mit roten Schleifen sind an die Laternen in der Altstadt Bietigheim-Bissingens gebunden, Lichterketten hängen über den Straßen. Auf dem Markt der schwäbischen Stadt tummeln sich an diesem Samstagmorgen die Menschen mit ihren Einkaufskörben und Taschen. Der Gemüsehändler wünscht schonmal frohe Weihnachten, "falls man sich nicht mehr sieht bis dahin". Aber gemütliche Vorfreude auf die Festtage kommt im kalten Nieselregen nicht auf, der Lockdown liegt in der Luft. Der Metzger sagt, viele Leute hätten vorsorglich schon heute ihren Weihnachtsbraten eingekauft.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat am Freitag nächtliche Ausgangssperren erlassen. Ab acht Uhr abends dürfen die Menschen das Haus nur noch verlassen, "um etwas Wichtiges zu erledigen". Am Sonntag wollen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs beraten, viele Beobachter erwarten harte Einschränkungen.
"Ich hab' schon Bauchweh, wenn ich höre, es soll ein totaler Lockdown kommen", sagt Rita Hettich, hauptamtliche Leiterin des Weltladens in Bietigheim-Bissingen. Man spüre den Menschen die Angst förmlich an, sagt Hettich: "Die Leute kaufen drei Packungen Fair-Trade-Kaffee statt einer, weil sie das Wort Lockdown schon im Hinterkopf haben". Immer wieder klingelt die Ladenglocke, "heute ist wirklich Halli Galli" sagt Hettich in breitem Schwäbisch und klingt dabei eher besorgt als zufrieden.
Der ehrenamtlich betriebene Weltladen hängt am Weihnachtsgeschäft, ein Drittel des Jahresumsatzes fällt auf die Monate vor dem Fest der Geschenke, sagt Rita Hettich ntv.de. Bisher lief es gut, aber im Dezember lockt traditionell der Weihnachtsmarkt die Menschenmassen in die festlich beleuchtete Altstadt. "Die kaufen erst einen Pullover oder einen Schal hier im Weltladen und gehen danach einen Glühwein trinken", so Hettich. Der Umsatz, den das dem kleinen Laden sonst immer brachte, fällt natürlich dieses Jahr weg: "Ab fünf ist die Stadt ziemlich tot", meint Hettich.
Zum Heulen
Bietigheim-Bissingen ist eine malerische Stadt im Speckgürtel Stuttgarts. Porsche, Daimler, Bosch - Automobilhersteller und ihre Zulieferer, Maschinenbauer oder auch Mittelständler wie der Hemdenproduzent Olymp sichern den Wohlstand der Region. Mit seinen gut 40.000 Einwohnern darf sich Bietigheim-Bissingen größte schuldenfreie Gemeinde Baden-Württembergs nennen. Noch sind sterbende Innenstädte hier ein Schreckgespenst aus Gegenden im Norden und Osten der Republik. Die Bietigheimer Altstadt ist voller schöner Brunnen, Fachwerkhäuser und geschmückter Schaufenster. Selbst beim Reisebüro Albatros, schräg gegenüber vom Weltladen, herrscht vorsichtiger Optimismus. Zumindest dafür, wie verfahren die Lage ist.
Heike Groebe hat einiges zu sagen. "Aber kann sein, dass ich das Heulen anfange", warnt sie gegenüber ntv.de. Seit einem Jahr arbeitet ihr Reisebüro umsonst, rechnet sie vor: Bis der Lockdown kam, haben die Leute Reisen gebucht. "Und ab da mussten wir alles, was wir ab letztes Jahr im Oktober gemacht haben rückabwickeln". Seitdem sitze sie quasi auf dem Trockenen, sagt Groebe, "das ist einfach nur katastrophal". Aber das Reisebüro habe alle Kosten zurückerstattet, in ein zwei Fällen hapere es noch, die Leute würden persönlich betreut. Anders als bei den großen Reiseplattformen im Internet. "Die Leute, die im Internet gebucht haben, die keinen telefonischen Ansprechpartner hatten, die standen auf einmal hier im Reisebüro."
Sie setzt darauf, dass diese Erfahrungen die Menschen auch noch zu ihr treiben, wenn es irgendwann wieder losgeht. Aber erstmal herrscht Windstille im Reisebüro Albatros. Weihnachten und Silvester sei eigentlich die zweitwichtigste Reisezeit, sagt Groebe: "Das ist alles komplett weggebrochen", auch ihre Stimme bricht ab, "da hören Sie wie viel Verzweiflung da ist".
Die erhoffte Erholung durch den Teil-Lockdown ist ausgeblieben, nicht nur in Baden-Württemberg. Neuinfektionszahlen im dreistelligen Bereich sind in vielen Landkreisen neue Normalität geworden. Schärfere Maßnahmen scheinen unausweichlich. Aber sie werden nicht für alle in gleicher Weise ertragbar sein: Bietigheim-Bissingen hat sicher eine komfortablere wirtschaftliche Ausgangsposition als viele andere Städte, den Weltladen kostet die Krise einen Teil des Weihnachtsgeschäftes, Frau Groebe vom Reisebüro Albatros kostet sie ein ganzes Jahr Arbeit und jede Menge Nerven. Selbst hinter den schmucken Fassaden der wohlhabenden Stadt ist die Angst zu spüren.