Freispruch im Mordprozess Als der Fall O. J. Simpson die USA spaltete
03.10.2020, 11:00 Uhr
Sie passen nicht: Simpson bei der Anprobe der blutbefleckten Handschuhe vor Gericht.
(Foto: REUTERS)
Es ist der spektakulärste Fall der US-Kriminalgeschichte: In Los Angeles muss sich der frühere Sportstar O. J. Simpson wegen Doppelmordes verantworten. Trotz erdrückender Indizien verlässt er das Gericht als freier Mann. Das Urteil offenbart, wie tief der Graben zwischen weißen und schwarzen US-Amerikanern ist.
Als begnadeter Footballspieler schreibt Orenthal James Simpson, genannt O. J., Sportgeschichte. Seinen größten Erfolg erlebt das schwarze Sport-Idol aber erst nach seiner Profi-Laufbahn. Am 3. Oktober 1995 spricht ihn eine Jury in Los Angeles zur Überraschung vieler Rechtsexperten vom Vorwurf des Doppelmordes an seiner Ex-Frau Nicole Brown Simpson und dem Kellner Ronald Goldman frei.

Die Ehe der Simpsons ist geprägt von häuslicher Gewalt. Mehrmals wird die Polizei deswegen zum Anwesen des Paares gerufen.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Dabei scheint der Fall zunächst eindeutig. Am Abend des 12. Juni 1994 finden Polizisten die Leichen Browns und ihres Bekannten Goldman. Beide liegen erstochen vor Browns Anwesen im Nobelviertel Brentwood. Als Ermittler Simpson noch in der Nacht über den Tod seiner Ex-Frau informieren wollen, entdecken sie auf seinem Grundstück Blutspuren und einen Handschuh. Er passt zu dem Exemplar, welcher zuvor am Tatort gefunden wurde. Damit gerät Simpson ins Visier der Ermittlungen.
Fünf Tage später erheben die Behörden Anklage gegen ihn. Doch statt sich wie vereinbart der Polizei zu stellen, taucht Simpson unter und löst damit eine Großfahndung aus. Sie gipfelt in einer dramatischen Verfolgungsjagd, die Millionen Amerikaner live an den TV-Bildschirmen verfolgen. Erst vor Simpsons Villa endet die Flucht - der frühere Sportstar landet in Untersuchungshaft.
Simpsons Alibi gerät ins Wanken
Simpson beharrt auf seiner Unschuld. Er gibt an, sich in der Mordnacht zu Hause befunden zu haben und später nach Chicago geflogen zu sein. Doch sein Alibi gerät ins Wanken. Eine Zeugin will ihn zum Zeitpunkt des Verbrechens in der Nähe des Tatorts gesehen haben. Zudem belasten ihn alte Notruf-Mitschnitte, in denen eine verängstigte Brown die Polizei um Hilfe bittet, weil sie sich von Simpson bedroht fühlt.

Millionen Amerikaner verfolgen die Flucht Simpsons - er sitzt in dem weißen Ford Bronco - und die Verfolgungsjagd live im Fernsehen.
(Foto: AP)
Der Prozessauftakt Ende Juni wird zum Medienspektakel. Hunderte Journalisten finden sich in Los Angeles ein, um über den Fall zu berichten. Schätzungsweise 25.000 Zeitungsartikel sind bereits im Vorfeld erschienen. Es gibt kaum eine Nachrichtensendung, in der nicht der Name Simpson fällt. Das Drama vom umjubelten Sport-Helden zum Angeklagten in einem Mordprozess elektrisiert die Öffentlichkeit. Es handelt vom Aufstieg eines Schwarzen aus einem Armenviertel von San Francisco in die von Weißen dominierte Oberschicht, von Ruhm und Reichtum, aber auch von krankhafter Eifersucht und häuslicher Gewalt.
Dass die Mordopfer Weiße sind, sorgt für zusätzlichen Sprengstoff. Für viele scheint sich das Vorurteil vom "gewalttätigen Schwarzen" zu bestätigen. Teilweise bedient auch die Presse dieses rassistische Klischee. So druckt das "Time"-Magazin auf seiner Titelseite ein Foto von Simpson, auf dem seine Hautfarbe nachträglich geschwärzt ist. Später entschuldigt sich der Chefredakteur für die mangelnde Feinfühligkeit.
Die Tatwaffe bleibt verschwunden
Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass Simpson seine Ex-Frau jahrelang misshandelte und so besessen war, dass er ihr auch nach der Scheidung nachstellte und in Zorn geriet, wenn er sie mit einem anderen Mann sah. Nach Ansicht der Anklage griff Simpson am Abend des 12. Juni in blinder Wut zum Messer. Goldman soll während der Tat zufällig aufgetaucht und deshalb zum zweiten Opfer geworden sein. Das Problem: Es gibt keine Zeugen des Verbrechens, und auch die Tatwaffe bleibt verschwunden. So muss sich die Staatsanwaltschaft allein auf Indizien stützen.
Insbesondere die forensischen Spuren spielen dabei eine große Rolle. Mehrere rechtsmedizinische Untersuchungen ergeben, dass Blutspuren am Tatort und auf Simpsons Grundstück mit den genetischen Merkmalen des Angeklagten übereinstimmen. Zudem stammen in Simpsons Geländewagen gefundene Blutspuren von den Opfern und vom Angeklagten selbst. Dasselbe gilt für Blut am "Täterhandschuh" sowie für Blutspritzer auf Simpsons Socken.
Für Simpson steht viel auf dem Spiel. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine lebenslange Haftstrafe. Sein Team aus Promi-Anwälten bemüht sich erst gar nicht, seine Unschuld zu beweisen. Vielmehr versuchen sie, die Argumente der Staatsanwaltschaft in Zweifel zu ziehen und Simpson als unschuldiges Opfer darzustellen, das durch Rassismus und schlampige Ermittlungen ins Fadenkreuz geriet.
Die Strategie geht auf. So muss der leitende Polizeibeamte im Kreuzverhör schwere Versäumnisse bei der Ermittlungsarbeit einräumen. Es kommt heraus, dass einige der Blutspuren erst drei Wochen nach den Morden am Tatort sichergestellt wurden. Zu einem Zeitpunkt, als bereits Tausende Schaulustige den Ort des Verbrechens besucht hatten. Ein Kriminalexperte gesteht zudem Fehler beim Einsammeln von Beweisstücken ein. So wurde Browns Leiche mit einer Decke aus ihrem Wohnzimmer verhüllt. Dadurch sei es nicht mehr auszuschließen, dass Haare des Angeklagten auf die Leiche übertragen wurden, so Simpsons Anwälte.
Polizist des Meineids überführt
Auch der weiße Kripobeamte, der den blutigen Handschuh auf Simpsons Grundstück fand, gerät unter Druck. Die Verteidigung konfrontiert ihn mit Interviews, welche der Beamte vor Jahren mit einer Drehbuchautorin geführt hat. Auf Tonband-Aufzeichnungen erzählt er freimütig, dass er mit Kollegen Verdächtige "gefoltert" und ihre Gesichter "zu Brei geschlagen" habe. Zudem beschimpft er Schwarze mehrmals als "Nigger". Daraufhin unterstellt ihm die Verteidigung, den Handschuh selbst auf Simpsons Grundstück deponiert zu haben. Da der Polizist zuvor rassistische Äußerungen geleugnet hat, ist er des Meineids überführt. Fortan verweigert er jede weitere Aussage.

Das Anklage-Team um Staatsanwältin Marcia Clark konzentriert sich vor allem auf die gefundenen Blutspuren.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Und für die Anklage kommt es noch schlimmer: Als Simpson auf Antrag der Staatsanwaltschaft die blutgetränkten Handschuhe im Gerichtsaal anprobiert, kann er sie nur unter größten Anstrengungen über seine Finger ziehen. Am Ende reicht das Leder kaum bis zu den Handgelenken. Auch wenn fabrikneue Handschuhe des gleichen Modells bei einer weiteren Demonstration perfekt sitzen, ist die misslungene Vorführung ein Desaster für die Staatsanwaltschaft.
Exakt ein Jahr nach dem Auftakt der Geschworenen-Auswahl schließt das Gericht die Beweisaufnahme und Zeugenbefragung ab. In ihrem Schlussplädoyer betont Staatsanwältin Marcia Clark noch einmal, dass Simpson "jenseits jeden vernünftigen Zweifels" schuldig sei. Sie spricht von einem "Abschlachten" der Opfer "in blinder Wut". Als "vernichtende Beweise" bezeichnet sie die zahlreichen gefundenen Blutspuren. Ein Freispruch wäre angesichts dessen eine Tragödie.
Hauptverteidiger Johnnie Cochran wirft der Staatsanwaltschaft dagegen vor, den Prozess um jeden Preis gewinnen zu wollen. Dabei habe die Anklage Tatsachen verdreht und benutze die Aussage eines rassistischen Polizisten, der "offensichtlich Beweismaterial fälschte". Wenn die einzelnen Beweisstücke der Staatsanwaltschaft nicht zusammenpassten, müsse der Angeklagte freigesprochen werden. "Sprechen Sie ihn frei, wenn es nicht passt" ("If it doesn’t fit, you must acquit"), wiederholt Cochran immer wieder im Laufe seiner Rede.
Späte Genugtuung für die Hinterbliebenen
Nach nur vier Stunden Beratungszeit einigen sich die zwölf Geschworenen, von denen neun Schwarze sind, überraschend schnell auf das Urteil. Der Freispruch löst gemischte Reaktionen aus. Während sich Tausende schwarze Simpson-Anhänger vor dem Gerichtsgebäude in den Armen liegen, schütteln die hauptsächlich weißen Kritiker fassungslos die Köpfe.
Wie gespalten die Meinung ist, zeigen auch Umfragen kurz nach dem "Jahrhundertprozess". Demnach glaubt der Großteil der schwarzen Bevölkerung, dass Simpson unschuldig sei, die Mehrheit der weißen US-Bürger hält den Ex-Sportler für den Mörder. Einige Simpson-Befürworter sehen das Urteil auch als Wiedergutmachung für den Fall Rodney King. Der Afroamerikaner wurde 1991 in Los Angeles von vier weißen Polizisten brutal zusammengeschlagen. Trotz Videoaufnahmen der Tat wurden die Beamten ein Jahr später freigesprochen, was schwere Unruhen in der Stadt auslöste und Dutzende Tote zur Folge hatte.
Eine späte Genugtuung gibt es für die Familien von Goldman und Brown aber doch. Zwei Jahre nach dem Freispruch wird Simpson in einem Zivilprozess zu einer Schadenersatzzahlung an die Hinterbliebenen in Höhe von mehr als 33 Millionen Dollar verurteilt. 2008 landet er wegen eines bewaffneten Raubüberfalls im Gefängnis. Seit drei Jahren ist der heute 73-Jährige wieder auf freiem Fuß. Für den Mord an Brown und Goldman wurde bis heute niemand verurteilt.
Quelle: ntv.de, mit dpa