Streitkultur de luxeAn Weihnachten drohen tiefsitzende Konflikte aufzubrechen
Torsten Landsberg
Das Weihnachtsfest verläuft nicht immer so harmonisch, wie wir uns das vorstellen. Mit Selbstdisziplin und Humor kann es trotzdem klappen, sagt die Psychologin Franca Cerutti.
Heikle Fragen gehören zu Weihnachten wie "Last Christmas" aus dem Radio: Bei welcher Familie feiern wir? Schon wieder? Magst du meine Familie nicht? Mag ich meine Familie nicht? Mögen wir uns überhaupt? Bei rund einem Viertel der Erwachsenen gibt es laut einer Yougov-Umfrage von 2019 an Weihnachten immer oder gelegentlich Streit - am häufigsten mit dem Partner oder der Partnerin (36 Prozent) und den eigenen Eltern (35 Prozent). Ebenfalls ein Viertel der Befragten einer aktuellen Civey-Umfrage fühlen sich durch die Vorbereitungen gestresst. Für dünnes Eis sorgen vor allem Ablauf und Organisation, Beziehungsprobleme, Aufgabenverteilung, Benachteiligung sowie das Weihnachtsessen.
Wer sich nach Mutters Braten sehnt und damit Geborgenheit und Tradition verbindet, übersieht vielleicht, dass die Mutter am Bewirten gar keinen Spaß hat: Wer quengelt über Rotkohl, isst die Enkelin nun vegan oder vegetarisch - und ist dann Fisch O.K.? Neben stressigen, aber vergleichsweise harmlosen Kabbeleien drohen tiefer sitzende Konflikte aufzubrechen. Und plötzlich hockt man aufeinander.
"In den meisten Fällen weiß man vorher, was einen erwartet", sagt die Psychotherapeutin Franca Cerutti, Host des Podcasts "Psychologie to go!" und Coachin in der ARD-Reihe "Familientherapie". Selbstdisziplin sei deshalb ein gutes Mittel, um die Tage zu überstehen: "Ist es mir wichtig, dass das ein freundliches, harmonisches Familienessen wird, oder möchte ich alle Konflikte der letzten zwanzig Jahre bereinigen - und zwar genau jetzt?"
Rund jede und jeder fünfte Befragte der Civey-Erhebung ist von den hohen Erwartungen an die Feiertage genervt. Ein perfektes Fest ist das Ideal, doch je höher die Erwartungen, desto größer auch die Fallhöhe. "Viele Menschen haben an ihre Familie große Beziehungsanliegen, weil das so gelernt ist und traditionell unserer Erwartungshaltung entspricht: Familie müsste doch interessiert sein und liebevoll miteinander umgehen", sagt Cerutti. Zu realisieren, dass Familienmitglieder diese Bedürfnisse nicht befriedigen können, sei nicht leicht zu akzeptieren. "Der Schmerz kommt, weil eine falsch erfüllte Beziehungserwartung immer wieder an die gleichen Menschen gerichtet wird, die diese Erwartung vielleicht noch nie oder schon lange nicht mehr erfüllt haben."
Plötzlich wieder Kind
Cerutti empfiehlt, sich im Familienverbund auf gemeinsame Aktivitäten zu verständigen. "Wir einigen uns mal auf maximal drei Punkte, die uns allen wichtig sind: etwa ein schönes gemeinsames Essen, einen langen Winterspaziergang, und wir wollen einmal zusammen Plätzchen backen. Wenn das Prioritäten sind, an denen unser Herz hängt, woran wir Erinnerungen knüpfen, dann ist alles andere nice-to-have, aber nicht so wichtig."
Weil am festlich gedeckten Tisch vielleicht nicht alle gleichermaßen tolerant oder sensibel sind, bleiben cringey Fragen zum eigenen Lebensentwurf, dem beruflichen Fortkommen oder der Familienplanung nicht aus - und können selbst bei Erwachsenen einen seltsamen Rechtfertigungsdruck erzeugen. Unser Selbstwertgefühl präge sich in jungen Jahren in der Herkunftsfamilie aus, sagt Cerutti: "Was muss ich leisten, wofür werde ich gelobt und wofür geliebt? Selbst, wenn wir uns im echten Leben einigermaßen von solchen Erwartungen emanzipiert haben, kommen wir oft in unser Elternhaus zurück und fühlen uns, als wären wir plötzlich wieder sieben Jahre alt."
Lassen sich unangenehme Momente wirklich nicht vermeiden, rät die Therapeutin zu Großzügigkeit und - kein Witz! - Humor. Gelassenheit in deutschen Weihnachtsstuben, das kann ja heiter werden. "Bei jüngeren Patientinnen und Patienten mache ich total gute Erfahrungen mit Bullshit-Bingo: Das spielt man mit einer eingeweihten Person, mit der man sich verschwörerische Blicke zuwerfen kann." Vorab denke man sich im Kopf eine Bingo-Karte mit klassischen Sprüchen und Kommentaren der Familienmitglieder aus: "Was wird die Mutter wieder über meine Frisur sagen? Wird Tante Emi wieder fragen, ob ich nicht endlich Kinder bekommen möchte? Wird vielleicht jemand meine Berufswahl anzweifeln? Ich empfehle, einfach in sich hinein zu schmunzeln und still zu rufen: 'Bingo!'"
Schon geladen ins Fest
Obwohl sich Hektik und Anspannung an den Feiertagen bündeln, schlittern wir in der Regel schon unter Strom ins Fest. Der Stress beginnt Wochen vorher mit den ersten Planungen, der Buchung der Zugfahrten, den Gedanken ans Gedränge und bekannte Familienmuster. "Für viele Menschen fühlt sich der ganze Dezember an wie eine Prüfungssituation mit einer Deadline am 24.", sagt Cerutti. Neben den familiären Verpflichtungen sei oft auch im Beruf noch einiges wegzuarbeiten. "Das ist viel, was uns da auf einmal erwartet."
Kaum verwunderlich, dass sich im Dezember Trennungen häufen, besonders die Monatsmitte gilt als "Breakup-Risk-Zone", weil Paare vor den Feiertagen Entscheidungen zu treffen haben. "Viele sind mit den vermeintlichen Idealfamilien konfrontiert, wo sie dann merken: Das ist bei uns aber ganz und gar nicht so", erklärt die Therapeutin. "Die Zufriedenheit von Menschen ist in der Weihnachtszeit, statistisch gesehen, geringer, das ist eine hoch angespannte, emotionale Zeit."
Während sich die meisten Eigenheiten der buckligen Verwandtschaft mit einem Augenzwinkern beiseite wischen lassen, entlädt sich der aufgestaute Frust bisweilen auf dramatische Weise in häuslicher Gewalt. Manche Beratungsstellen und Frauenhäuser verzeichnen nach den Feiertagen deutlich mehr Anfragen als sonst. "Manchmal bringen Kleinigkeiten das Fass zum Überlaufen, und viele Menschen wählen dann Alkohol, weil sie glauben, das wirkt entspannend und entlastend", sagt Franca Cerutti. "Natürlich ist das Gegenteil der Fall." Alkohol bremse den präfrontalen Cortex - "den Gehirnbereich, wo aus guten Gründen unsere Hemmung sitzt, unsere Vorsicht, unser Abwägen. Stress mit Alkohol dämpfen zu wollen, hat häufig wirklich katastrophale Folgen."