Panorama

Sterbender Rentner ignoriertAngeklagter: "Ich dachte, er schläft"

18.09.2017, 11:48 Uhr
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Der Fall wurde zum Symbol für eine kalte, verrohte Gesellschaft: Ein alter Mann liegt hilflos auf dem Boden einer Bankfiliale. Vier Kunden ignorieren ihn, erst ein fünfter Mann holt Hilfe. Knapp ein Jahr später sitzen die Täter auf der Anklagebank - und reden sich heraus.

Es sind Szenen, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt haben: Im Vorraum einer Essener Bankfiliale bricht ein Rentner zusammen, hilflos liegt der 83-Jährige neben den Bankautomaten. Mehrere Bankkunden gehen um den Mann herum, steigen über ihn hinweg und lassen ihn achtlos liegen. Erst der fünfte Kunde alarmiert den Notarzt.

Knapp ein Jahr später hat vor dem Amtsgericht Essen-Borbeck der Prozess gegen drei Bankkunden wegen unterlassener Hilfeleistung begonnen. Zwei der drei Angeklagten behaupten, sie hätten den 83-Jährigen für einen Obdachlosen gehalten. "Ich dachte, er schläft", sagte ein 61 Jahre alter Angeklagter. "Es tut mir wirklich sehr, sehr leid." Er habe früher schon einmal jemanden angesprochen und sei dann beschimpft worden. Die 39 Jahre alte Angeklagte sagte, sie sei schon öfter von Obdachlosen belästigt worden. Ihr Verhalten beschrieb sie so: "Ich gehe einfach nur rein, mache meine Erledigungen und gehe wieder." Dagegen schilderte ein Polizeibeamter, der mit einem Kollegen zu der Bank gerufen worden war: "Für uns war klar, dass es sich nicht um einen Obdachlosen handelt."

Eine Überwachungskamera im Vorraum des Geldinstitutes hatte den aufsehenerregenden Fall dokumentiert. In der Anklageschrift werden die entscheidenden Momente wie folgt festgehalten: Demnach will der Rentner am 3. Oktober 2016 seine Bankgeschäfte an einem Überweisungsautomaten erledigen. Innerhalb weniger Minuten stürzt er zweimal rückwärts, er kommt dabei mit dem Kopf auf dem Fliesenboden auf. Nach einem dritten Sturz bleibt er liegen. Wenige Minuten später betreten nacheinander vier Kunden die Filiale. "Die Angeklagten sollen den auf dem Boden liegenden Mann nicht beachtet und sich nicht um ihn gekümmert haben", wirft ihnen die Anklagebehörde vor.

Erst sieben Minuten später kommt ein fünfter Kunde, der endlich die Nummer des Notrufs wählt. Weitere 20 Minuten später trifft ein Rettungswagen ein und bringt den Senior in eine Klinik. Das Bewusstsein erlangt der Mann nicht wieder, er stirbt eine Woche später. Zwar ergibt ein Gutachten, dass der Rentner auch gestorben wäre, hätte sich ein Arzt früher kümmern können. Laut Obduktion erlitt der 83-Jährige eine Schädel-Hirn-Verletzung, die vom Sturz auf den Hinterkopf stammen könnte. Trotzdem kam es zur Anklage.

Staatsanwältin: Zeichen setzen

Die Staatsanwaltschaft forderte eine "empfindliche Geldstrafe". "Die solidarische Pflicht, Mitmenschen zu helfen, ist in besonderem Ausmaß verletzt worden", sagte Staatsanwältin Nina Rezai in ihrem Plädoyer. Mit der Strafe müsse ein deutliches Zeichen gesetzt werden, "dass wir uns nicht in Richtung einer wegsehenden Gesellschaft bewegen".

Zunächst stehen drei der vier Bankkunden vor Gericht. Das Verfahren gegen den vierten Angeklagten wurde wegen dessen Gesundheitszustandes abgetrennt. Noch am Montag könnte nach Einschätzung des Gerichts ein Urteil fallen. Sechs Zeugen sind geladen. Neben vier Polizisten und dem Mann, der den Notruf wählte, wird auch die Tochter des verstorbenen Rentners erwartet.

Quelle: dsi/dpa

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