Panorama

Hey, das kann ich auch anziehen! Sex, Blüten, Struwwelpeter

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Modemacher sind nicht nur Konkurrenten - sie schaffen mehr, wenn sie sich zusammentun und gegenseitig unterstützen.

Modemacher sind nicht nur Konkurrenten - sie schaffen mehr, wenn sie sich zusammentun und gegenseitig unterstützen.

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Richtig, die Berliner Fashionweek ist nicht Mailand oder Paris. Aber sie ist ein Ort, von dem Liebe ausgeht, Ideen, Kreativität, Macht und Wirtschaftsfaktoren. Intern wird der Zusammenhalt gerühmt. Und ja, oh krass, man kann dort bei einigen Designern Karten kaufen, man muss kein Star sein oder sich hochschlafen. Man kann damit Gutes tun und man kann ein paar spitzenmäßige Tage haben. Etwas anderes will die Journalistin, die mit den sowohl inspirierenden als auch rastlosen und empathischen Designern Marcel Ostertag, Kilian Kerner und Danny Reinke gesprochen hat, ja gar nicht. Und bekommt doch so viel mehr.

ntv.de: Insomnia - Schlaflosigkeit, oder auch Rastlosigkeit. Was verbindest du damit? Warum heißt deine Kollektion so?

Marcel Ostertag: Sie heißt so, weil einfach die ganze Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad rastlos und schlaflos erscheint. Daraus wollte ich eine Geschichte spinnen. Und zwar so, dass wir diese Rastlosigkeit und die Schlaflosigkeit nicht allein zu Hause verbringen, sondern eine große Party schmeißen, uns nachts in einem Club treffen und das Miteinander feiern. Und den respektvollen Umgang.

Ist dir die Welt zu respektlos?

Marcel Ostertag: Ich hatte die Hoffnung, dass nach der Pandemie alle wieder enger zusammenwachsen. Wir waren ja sehr lange getrennt voneinander. Es ist aber genau das Gegenteil passiert. Wir haben durch Mode jedoch eine Stimme, wir können Geschichten erzählen. Das Schöne ist, dass nach meinen Modenschauen immer alle nach Hause gehen und ganz beseelt sind und sich umarmen und lieb haben (lacht). Ich halte es nicht mehr aus, ununterbrochen diese Negativität und diese schrecklichen Nachrichten. Man darf es natürlich nicht ausblenden, aber man kann sich auch mal Momente nehmen, in denen man sich rauszieht.

Das kann man hervorragend bei solchen Anlässen wie euren Shows.

Marcel Ostertag: Das haben auch viele zu mir gesagt: "Es ist immer so schön bei dir, es hat so viel positive Energie". Wenn das nur für die Hälfte des Publikums gilt, bin ich happy.

Kilian Kerner stattet jetzt auch die BVG aus (Uniform leider nicht im Bild): "Das bedeutet mir echt viel."

Kilian Kerner stattet jetzt auch die BVG aus (Uniform leider nicht im Bild): "Das bedeutet mir echt viel."

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Kilian, dein Motto ist "Shitstorm" - wenn eines klar ist, dann, dass diese Kollektion keinen erhalten wird.

Kilian Kerner: (lacht) Also, es hat angefangen mit einer Story, die ich nie vergessen habe, obwohl sie schon 15 Jahre her ist. Und zwar die Geschichte, als Justin Bieber Eier gegen Wände geworfen hat und dieser Junge danach durch die Hölle gehen musste. Ich habe das nicht verstanden. Er hat drei Eier an die Wände seines Nachbarn geworfen und die Presse hat daraus eine Geschichte gemacht, die geisteskrank war. Ich dachte also, wenn euer Kind nichts Schlimmeres in seinem Leben angestellt hat, als ein paar Eier an die Wand zu werfen, herzlichen Glückwunsch.

Die meisten von uns haben Schlimmeres gemacht ...

Kilian Kerner: (lacht) Das will ich wohl meinen. Und anstatt mal zu fragen, warum der das macht, holt der vielleicht gerade sein zwölfjähriges Ich nach, das er versäumt hat, weil er bereits ein Kinderstar war, wird er massiv fertig gemacht. In einer Zeit, in der es ihm viel schlechter ging, als wir alle geahnt haben. Und ja, ich finde es wahnsinnig schlimm, dass sich niemand darum kümmert, dass es in den sozialen Medien andere Gesetze gibt als im wahren Leben.

Ich kenne auch andere Reaktionen auf Eierwürfe: Diese Kids zum Frühstück einladen und Rühreier machen. Bald wird es übrigens noch schlimmer im World Wide Web.

Rat bei Depression und Suizidgefahr
  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33
  • Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei)
  • Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Deutsche Depressionshilfe (regionale Krisendienste und Kliniken, Tipps für Betroffene und Angehörige)
  • Deutsche Depressionsliga

Kilian Kerner: Als ich das gehört habe, dass es keine Richtlinien mehr geben wird und gar kein Filter mehr vorhanden sein wird, lief es mir kalt den Rücken runter. Diese Spinner. Das kostet Leben. Es gibt viele Menschen, die depressiv werden, die krank werden, die sich umbringen. Also, anstatt diese Plattformen für ihre eigene politische Werbung zu nutzen, sollte die Politik sich darum kümmern, ihre Kinder zu schützen. Aber was machen die? Die nutzen das, um irgendwelche Propaganda darüber zu vertreiben.

Seid ihr eigentlich noch nervös vor euren Shows?

Danny Reinke: Es ist mittlerweile unsere 16. Saison. Man weiß, worauf man sich einlässt. Also man ist jetzt nicht mehr super nervös. Aber ich saß bei Kilian draußen und irgendwie hat es mich hibbelig gemacht. Also ja, die Anspannung wird direkt davor größer. Ich habe aber ein super Team, ich kann mich auf alle verlassen, das beruhigt.

Mode ist Teamarbeit ...

Ostertag und Reinke. Zusammen mit Kilian Kerner haben sie einen Tag lang die Uber-Eats-Halle gefüllt.

Ostertag und Reinke. Zusammen mit Kilian Kerner haben sie einen Tag lang die Uber-Eats-Halle gefüllt.

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Danny Reinke: Wir haben ein kleines Team. Ich möchte das aber auch so. Ich glaube, je mehr Leute da sind, umso chaotischer wird's (lacht). Ich bin nicht nur Modedesigner, sondern auch Maßschneider. Also alle Kleidungsstücke, die bei der Fashionweek in Berlin auf den Laufsteg kommen, habe ich selbst genäht. Ich habe den Schnitt gemacht, zwei Praktikantinnen helfen mir. Ich kann aber auch schwer loslassen und abgeben (lacht). Natürlich ist jede Saison anders, es gibt unterschiedliche Herausforderungen. Aber ja, Mode ist Teamwork.

Ihr seid alle drei politisch angehaucht. Mode ist immer auch Zeitgeist, und im Augenblick ist die Welt einfach schlecht vielerorts. Die Nachrichten sind hart - brauchen wir Zerstreuung? Marcel, du sagst, du hältst es manchmal kaum aus. Was machst du dann? Fliehst du nach Bayern?

Marcel Ostertag: Zum Beispiel. Für mich ist unser Bauernhof mit meiner Familie ein Rückzugsort. Die Nachrichtenberichterstattung ist für viele Menschen zu viel, es gibt angeblich nichts Gutes, obwohl immer noch viel Positives passiert. Das sehen wir in Deutschland gar nicht mehr. Ich war gerade in Spanien, ich war in Italien, da gibt es auch Nachrichten, aber die Leute verlieren trotzdem nicht ihre Lebensfreude. Wir Deutschen sind schon sehr belastet, und deshalb freue ich mich so, dass wir unsere Gäste mit unserer Kollektion und unserer Show für eine kurze Zeit woanders hin entführen können.

Ein paar Promis in der ersten Reihe schaden auch nie.

Ein paar Promis in der ersten Reihe schaden auch nie.

(Foto: IMAGO/Future Image)

Wie macht man Mode, die Positivität nach außen trägt?

Marcel Ostertag: Ich habe dieses Mal einen Spagat geschafft: Es ist tatsächlich ein bisschen düsterer als in meinen anderen Kollektionen, aber das macht sie sexy. Ich habe also viel Schwarz dabei. Und es gibt wieder diesen Disco-Seventies-Vibe, der die Leute in Gedanken schon die nächste Party schmeißen lässt. Das ist für mich eine wichtige Kombination: Das Negative verarbeiten, es aber anders transportieren.

Danny Reinke: Wir sind normalerweise kein politisches Label, aber in ein paar Wochen setzen wir unser Kreuz hier in Deutschland. Ich will wachrütteln, alle sollen ihre Köpfe anstrengen. Das ist meine Hauptbotschaft. Visuell dreht sich die Kollektion um die Struwwelpeter-Geschichten aus unserer Kindheit. Ich verknüpfe diese beiden Themen, weil sie in meinen Augen für Rebellion und Anarchie stehen. Also die Protagonisten in dieser Struwwelpeter-Geschichte und die, die meine Kleider tragen. Jeder kann sich die Charaktere auslegen wie er möchte, ob er sie als Helden sieht oder das Böse (lacht).

Like a flower!

Like a flower!

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Optimaler Ansatz. Marcel, du machst immer super Musik.

Marcel Ostertag: Danke. Ich wähle die Tracks komplett allein aus. Ich bin dann wirklich schlaflos und nächtelang mit Musik beschäftigt. Irgendwann ergibt sich für mich ein Fluss, und ich wünsche mir, dass das Publikum mitgeht. Ich werde wohl nie eine Modenschau machen, wo die Models langsam über den Laufsteg schleichen, für mich muss eine Show immer Dynamik, Action und Geschwindigkeit ausstrahlen. Das macht das Ganze einfach aufregender. Ich brauche dieses Spannungsgefühl.

Und wie packt man den "Shitstorm" in die Mode, Kilian?

Kilian Kerner: Der Anfang dieser Kollektion, so wie er auf dem Laufsteg zu sehen war, ist bunt. Gerade dieses Blumenkleid zu Beginn - rosa, glücklich und blumig. Und das ist es im Prinzip: Du postest etwas, was du selbst schön findest, und kriegst doch den größten Shitstorm dafür, weil du in den Augen anderer Menschen nicht schön genug bist. Nicht dünn genug, oder zu dünn, weil du die falsche Hautfarbe hast oder das falsche Geschlecht. Obwohl du dieses irre süße Kleid anhast.

Die Show wurde dann immer düsterer ...

Kilian Kerner: ... und am Ende war die Blume verwelkt. Das war ja ein ähnliches Kleid am Schluss wie das am Anfang, nur in Schwarz. Natürlich gibt es genug Glitzeroutfits - die sollen das Selbstbewusstsein darstellen, das wir alle brauchen, um mit einem Shitstorm besser umgehen zu können.

Der Designer und die verblühte Blume.

Der Designer und die verblühte Blume.

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Vielleicht, weil du privat happy bist?

Kilian Kerner: Kann sein, dass es daran liegt. Oder an meinem Alter. Aber ich weiß, dass es anderen Menschen nicht so geht. Ich fühle mit, und deswegen hätte ich gerne Gesetzesänderungen. Aber wir wissen alle, es wird nichts passieren. Denn wie soll man das bearbeiten, wenn da am Tag Tausende Anzeigen kommen?

Die Zukunft sieht wie aus?

Danny Reinke: Die Zukunft findet vielleicht mal in Paris statt? Auch, wenn wir Berlin lieben (lacht). Unsere Message ist dieses Mal etwas härter als sonst, aber unsere Handschrift ist nach wie vor die gleiche: Wir werden immer versuchen, unser Publikum in unsere Welt hineinzuziehen.

Deine Show heißt "90 Seconds to Midnight" ...

Danny Reinke: ... und spielt auf den Doomsday an.

Es sind übrigens nur noch 89 Sekunden ...

Danny Reinke: Oh. Wow, dann hat sich das während meiner Arbeit an der Kollektion geändert. Wir standen noch nie so kurz vor der nächsten Atomkrise. Demnächst vor der nächsten Klimakatastrophe.

Nachhaltigkeit - das ist so ein unsexy Wort, aber unabdingbar.

Marcel Ostertag: Für uns ist Nachhaltigkeit sehr wichtig. 60 Prozent der Kollektion sind aus Death Stock Fabrics. Für die, die das nicht kennen: Es gibt Stoffe, die von den großen Häusern wie Dior, Gucci, Prada gekauft werden und dort übrig bleiben - die kaufen wir ab. Es ist für mich das Allernachhaltigste, wenn man Stoffe benutzt, die schon da sind. Das Einzige, was wir neu produzieren lassen, sind unsere Artprints. Das ist ein Spagat, den man hinbekommen muss: Manchmal ist eine Biobaumwolle oder Bioviskose doch schneller kaputt oder ausgewaschen. Die habe ich zwar im Sortiment, aber ich benutze gerne eine zertifizierte Kunstfaser, denn das sind die Fasern, die am längsten halten. Ich habe teilweise Kundinnen, die sich vor 15 Jahren einen Anzug bei mir gekauft haben und den heute noch tragen. Bei mir geht es um Langlebigkeit und Zeitlosigkeit, ich folge nie Trends. Ich mache, worauf ich Lust habe, und wenn man mich lange tragen kann, dann ist das nachhaltig (lacht).

Reinke: "Ich stehe für das Handwerk. Ich möchte das Handwerk hier in Deutschland weiter ausbauen."

Reinke: "Ich stehe für das Handwerk. Ich möchte das Handwerk hier in Deutschland weiter ausbauen."

(Foto: IMAGO/Eventpress)

Danny Reinke: Wir sind sehr nachhaltig, schon allein, weil wir mit dem Konsumverhalten unserer Kunden anders umgehen: Keine Massen-, sondern Maßanfertigung. Bei uns ist wirklich alles auf den Kunden oder auf die Kundin angepasst. Man kommt zu uns, bestellt sich das Kleidungsstück "made to measure". Wir messen die Kunden aus und vermeiden dadurch Überproduktion. Nachhaltigkeit ist für mich aber nicht nur Biobaumwolle, sondern auch kulturelle Nachhaltigkeit.

Zu den Models: Sie sind bunt, divers, jede Altersrange, schon seit Langem.

Marcel Ostertag: Also für mich ist Diversität kein Stempel, ich mache das nicht, weil es alle machen, und ich mache das ja auch schon sehr lange. Ich habe bereits vor zehn Jahren eine Show in Zürich nur mit Kundinnen veranstaltet. Ich möchte die echte Vielfalt auf dem Laufsteg, denn das hat unser Label in den vergangenen Jahren extrem gepusht. Wir haben kleine Models, große Models, schmale Models, curvy Models, ich gebe auch gerne Newcomern eine Chance - und meinen Kundinnen. Unsere Models sind von 16 bis 72 - wir zelebrieren das, weil Mode kein Alter hat. Mode ist für mich eine Einstellung, ein Lebensgefühl. Wenn man Bock auf Mode hat oder außergewöhnliches Styling, ist man bei uns genau richtig. Das Publikum, das da sitzt, denkt: "Hey, das kann ich auch anziehen". Ich sage nur: "Probiert es! Traut euch!"

Diesen Anzug beispielsweise konnte man gleich einen Tag nach der Show kaufen - Ostertags Kunden lieben das Prinzip.

Diesen Anzug beispielsweise konnte man gleich einen Tag nach der Show kaufen - Ostertags Kunden lieben das Prinzip.

(Foto: Franz)

Habt ihr Angst vor Shitstorms?

Kilian Kerner: Mich treffen Beleidigungen im Internet nicht, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich bekomme die jedes Jahr massenhaft bei "Germany's Next Topmodel". Da lieben mich die meisten Menschen, aber es gibt auch welche, die mich echt scheiße finden. Und ich lache darüber. Aber ich habe noch nie einen solchen Shitstorm bekommen, dass ich dachte: "Oh Gott, mein Leben geht zu Ende".

Danny Reinke: Keine Angst. Mode ist immer schon mein Sprachrohr gewesen. Ich bin kein Mensch, der große Reden schwingt, aber es muss raus (lacht). Ich lasse meine Meinung, meine Gedanken, meine Emotionen durch meine Arbeit sprechen. Das war mir immer wichtig, und das, glaube ich, hat man auch jeder Kollektion angesehen. Es geht immer um ein anderes Konzept, ein anderes Thema. Was ich brauche, ist eine Person, einen persönlichen Anhaltspunkt, um eine Kollektion aufleben zu lassen und um diese Welt für mich selbst zu erschaffen.

Modemacher unter sich: Man kennt, schätzt und unterstützt sich.

Modemacher unter sich: Man kennt, schätzt und unterstützt sich.

(Foto: privat)

Habt ihr Hoffnung?

Danny Reinke: Hoffnung ist doch das, was uns am Leben hält. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Natürlich hoffe ich, dass wir alle in die richtige Richtung gehen. Ich weiß, wie gesagt, wo ich mein Kreuzchen setze. Und ich glaube, Zusammenhalt ist auch wichtig. Dann kann die Hoffnung mehr und mehr aufblühen.

Kilian Kerner: Also mir macht Hoffnung, dass sich eine großartige Designerin wie Leyla Piedayesh von Lala Berlin bei Marcel und Danny auf den Schoß setzt und bei meiner Show zuschaut. Das macht mich echt glücklich.

Mit Marcel Ostertag, Kilian Kerner und Danny Reinke sprach Sabine Oelmann

Quelle: ntv.de

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