Panorama

"Wir krümmen uns vor Schmerz" SUV-Unfall in Berlin: Wer trägt die Schuld an vier Toten?

Der Angeklagte im Gerichtssaal zwischen seinen Anwälten Carolin Lütcke und Robert Unger im Saal 500 des Landgerichts Berlin.

Der Angeklagte im Gerichtssaal zwischen seinen Anwälten Carolin Lütcke und Robert Unger im Saal 500 des Landgerichts Berlin.

(Foto: dpa)

Im September 2019 erleidet ein Autofahrer mitten in Berlin einen epileptischen Anfall, vier Menschen sterben. Der Mann hätte sich nicht hinters Steuer setzen dürfen, sagt die Anklage. Er konnte das nicht vorhersehen, argumentiert die Verteidigung. Heute fällt das Urteil.

Der Angeklagte hat das letzte Wort: "Ich schließe mich den Ausführungen meines Verteidigers an", sagt Michael M. Mit diesem formelhaften Satz aus dem juristischen Lehrbuch endeten in der vergangenen Woche die Plädoyers in einem Verkehrsstrafverfahren, das weit über Berlin hinaus für Aufsehen sorgte: der SUV-Unfall in Berlin-Mitte im Spätsommer 2019 mit vier Toten.

Verteidiger Robert Unger hatte am letzten Verhandlungstag Freispruch für den inzwischen 45 Jahre alten Todesfahrer beantragt. Sein Hauptargument: Die Ärzte hätten seinen Mandanten nicht vernünftig aufgeklärt. Die Staatsanwaltschaft lässt dieses Argument nur partiell gelten. Sie fordert eine Bewährungsstrafe von 18 Monaten.

SUV von Michael M. raste mit bis zu 106 km/h auf den Gehweg

Michael M. saß am Abend des 6. September 2019 am Steuer seines Porsche Macan Turbo, als er einen epileptischen Anfall - dies ist inzwischen weitgehend unstrittig - erlitt. Kurz nach Beginn der Fahrt zu einer nahegelegenen Pizzeria drehte M. nach Angaben seiner neben ihm sitzenden Mutter ruckartig den Kopf um 90 Grad nach links und war nicht mehr ansprechbar. Man könne allerdings "mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen", dass der Anfall schon vor der Drehung des Kopfes begann, sagte die behandelnde Ärztin des Angeklagten im Zeugenstand.

Der SUV scherte Sekunden später aus der wartenden Schlange vor einer roten Ampel auf der Invalidenstraße in Berlin-Mitte aus. Mutmaßlich bereits als Folge des epileptischen Anfalls, wie die Gutachter im Prozess feststellten und wie es auch die Zeugenaussagen nahelegten. Für ein bewusstes Fahrmanöver des Angeklagten, um an den wartenden Autos vorbeizufahren und noch vor der Ampel abzubiegen, gab es keine Belege.

Michael M. fuhr auf den Fahrstreifen der Gegenrichtung, legte dort rasant an Geschwindigkeit zu. "Er verkrampfte in diesem sehr, sehr schnellen Auto, trat das Gaspedal voll durch", konstatierte Oberstaatsanwalt Dirk Klöpperpieper in seinen Schlussworten. Nach rund 80 Metern Fahrt um kurz nach 19 Uhr traf der 400 PS starke SUV auf den Bürgersteig, mit einer Geschwindigkeit von 102 bis 106 km/h, wie anhand der Fahrzeugdaten rekonstruiert wurde.

An der Kreuzung Invaliden-/Ackerstraße riss der Porsche einen Poller aus der Verankerung, knickte eine Ampel um, drehte sich um die eigene Achse und überschlug sich danach mehrfach, bevor er im Bauzaun eines noch unbebauten Grundstücks landete. Dabei erfasste er vier Fußgänger. Alle vier starben noch an der Unfallstelle - ein 3-jähriger Junge, dessen 64-jährige Großmutter und ein Paar, zwei Männer, 28 und 29 Jahre alt, aus Spanien und England, die gerade erst gemeinsam nach Berlin gezogen waren. Michael M., seine neben ihm sitzende Mutter und seine damals 6-jährige Tochter auf dem Kindersitz der Rückbank blieben nahezu unverletzt. Die Dash-Cam eines Taxis nahm den ganzen Unfall auf.

Schuld oder Schicksal?

Die Unfallstelle am 6. September 2019. Die ersten Einsatzkräfte der Polizei gingen angesichts des Trümmerfeldes zunächst von einem Terrorakt aus.

Die Unfallstelle am 6. September 2019. Die ersten Einsatzkräfte der Polizei gingen angesichts des Trümmerfeldes zunächst von einem Terrorakt aus.

(Foto: dpa)

Es sei ein "schreckliches, ganz grauenhaftes Unglück, bei dem vier Menschen zu Tode gekommen sind und das Leben von vielen mehr zerstört worden ist. Ich bin zutiefst verzweifelt über das unermessliche Leid, das mein Unfall verursacht hat", hatte Michael M. nach dem Verlesen der Anklageschrift zum Prozessauftakt erklärt. Die Staatsanwaltschaft und insbesondere die Anwältinnen und Anwälte der Nebenkläger sehen das anders. Sie gehen nicht von einem schicksalshaften Unglück aus. Verantwortungslosigkeit habe zu dem schweren Autounfall geführt, erklärte die Staatsanwaltschaft. Der Angeklagte habe gegen ärztliche Auflagen verstoßen, habe sich trotz einer Epilepsie und einer Gehirnoperation kurz vor dem Unfall hinters Steuer gesetzt. "Sie hätten auf gar keinen Fall fahren dürfen", betonte der Oberstaatsanwalt in seinem Plädoyer. Aus seiner Sicht ist der 45-Jährige wegen fahrlässiger Tötung in vier Fällen sowie der Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig zu sprechen. Klöpperpieper forderte eineinhalb Jahre Haft auf Bewährung.

Lukas Theune, einer der Nebenklage-Anwälte im Prozess, ging in seinen Schlussworten weiter. Er hält eine Freiheitsstrafe auf Bewährung für nicht ausreichend. Bei der Tat habe es sich um einen Fall schwerster Verkehrskriminalität gehandelt. Eine Freiheitsstrafe im unteren Bereich sei zudem der Bevölkerung nicht vermittelbar und wäre ein Schlag ins Gesicht der Hinterbliebenen. Der Angeklagte habe grob fahrlässig gehandelt, als er sich so kurz nach der Gehirnoperation hinters Steuer setzte. Außerdem, so Theune, sei Michael M. ungeeignet zum Führen eines Fahrzeugs. Ihm müsse der Führerschein entzogen werden - für immer. Denn der Angeklagte sei sehr wohl und sehr deutlich auf die Gefahren, die von seiner Epilepsie ausgingen, hingewiesen worden. Mehrfach. "Er verstieß bewusst gegen ärztliche Weisungen", so Theune.

Welche Rolle spielten die Ärzte?

Den Prozessverlauf dominierten, besonders auf Betreiben der Verteidigung, die Mediziner und ihre Ausführungen vor Gericht. Und die Ärzte machten alles andere als eine gute Figur.

2018 wird bei Michael M. ein Gehirntumor entdeckt. Zufällig. Möglicherweise angeboren, jedenfalls nicht zwangsläufig etwas Dramatisches. Sein behandelnder Neurologe in Berlin setzt zunächst auf Beobachten. Am 12. Mai 2019 erleidet Michael M. dann aber im Schlaf einen epileptischen Anfall. Er begibt sich in die Berliner Charité und gerät dort, so fasst es der neurologische Gutachter im Prozess zusammen, "auf das falsche Gleis". Nämlich das Gleis der Neurochirurgie. In der Charité glaubt man, der Hirntumor sei der Auslöser des epileptischen Anfalls. Die Untersuchung hin auf eine strukturelle Epilepsie durch Neurologen gerät in den Hintergrund. Die ihn heute noch behandelnde Neurologin der Charité sagte vor Gericht, sie wisse nicht, warum der Angeklagte damals nicht von den Neurologen der Klinik gesehen worden sei. "Er hätte eigentlich untersucht werden müssen."

Michael M. wird in der Folge mit Keppra 500 behandelt. Am 7. August 2019 lässt er sich in der Schweiz minimalinvasiv den Tumor entfernen. Der Operateur ist vom Verlauf der OP und dem onkologischen Befund begeistert. Der Professor schreibt dem Angeklagten in mehreren Whatsapp-Nachrichten: "Heute dürfen Sie Ihren besten Champagner aufmachen" und wenig später: "keine Nachbehandlung, MR Kontrolle in 3 Monaten".

Am 27. August sitzt Michael M. wieder bei seinem Berliner Neurologen. Dem Neurologen, der 2018 den Tumor entdeckt hatte und bei dem Michael M. nach seinem Anfall im Mai in Behandlung war. Im Zeugenstand erklärt der Arzt, dass er davon ausging, dass sich mit der Operation das Risiko eines neuerlichen epileptischen Anfalls signifikant reduziert habe. Die Prognose für den Patienten sei in der Tat sehr günstig gewesen. Dass die Epilepsie aber kein Thema mehr sei, habe er nicht gesagt. Und zudem sei der Angeklagte umfassend belehrt worden, auch darüber, "mindestens ein Jahr nicht Auto zu fahren".

Neurologe manipulierte Krankenakte

Das Problem: In der digitalen Patientenakte des Arztes zu Michael M. findet sich nichts darüber. Oder präziser: Es finden sich zwei lange Anmerkungen zu Gesprächen über Sicherheitsaufklärungen und Fahrverbote. Beide wurden aber erst nach dem Unfall der Patientenakte angefügt - was der Neurologe ganz bewusst zu verschleiern versuchte. Erst als Zeuge vor Gericht und auf explizite Nachfrage gab er zu, dass er am 17. September 2019, unmittelbar nachdem er erfahren hatte, dass sein Patient der Unfallfahrer der Invalidenstraße war, zwei Praxisgespräche von Michael M. in der Akte ergänzt hatte. Nämlich das Gespräch nach dem ersten Anfall im Mai 2019 und das am 27. August 2019. In beiden Fällen um den Hinweis, den Angeklagten über die Risiken des Autofahrens umfangreich aufgeklärt zu haben. Im Januar 2022 stellte sich dann auch noch heraus, dass der Ausdruck der Patientenakte, den der Neurologe den Ermittlern zur Verfügung gestellt hatte, nicht mit der digitalen Patientenakte übereinstimmt. Der Arzt hatte den Ausdruck so geändert, dass seine Belehrungen und Behandlungsansätze entschlossener wirkten, als sie eigentlich waren.

Die meisten Angehörigen der Opfer fanden in den zurückliegenden Monaten nicht die Kraft, persönlich dem Prozess beizuwohnen.

Die meisten Angehörigen der Opfer fanden in den zurückliegenden Monaten nicht die Kraft, persönlich dem Prozess beizuwohnen.

(Foto: dpa)

"Der Zeuge hat sich unglaubwürdig gemacht", fasste Verteidiger Unger seine Sicht später zusammen. In der ursprünglichen Akte sei nichts zu finden: "Ein Fahrverbot oder eine Aufklärung über Fremd- oder Eigengefährdung wird mit keinem Wort erwähnt." Der Neurologe habe sich offenbar vor möglichen Haftungsansprüchen gefürchtet und deshalb nachträglich die Akte verändert.

Gab es nun Fahrverbote oder nicht?

Unabhängig von den möglichen Sicherheitsbelehrungen des Neurologen wurde im Laufe des Prozesses aber deutlich, dass an zwei Stellen ein Fahrverbot mindestens zur Sprache kam. Die Charité verhängte gegenüber Michael M. nach dem ersten epileptischen Anfall am 12. Mai 2019 ein dreimonatiges Fahrverbot. Zu wenig, sagte dazu der Gutachter Martin Holtkamp vom Epilepsie-Zentrum Berlin-Brandenburg im Prozess. Schon zu diesem Zeitpunkt hätten die behandelnden Ärzte dem Angeklagten ein längeres Fahrverbot aussprechen müssen. "Der Hirntumor an dieser Stelle und der Anfall definiert eine Epilepsie. Man hätte sagen müssen, dass er mindestens zwölf Monate nicht fahren darf." Und der behandelnde Arzt in der Schweiz erklärte vor Gericht, seinem Patienten gesagt zu haben, die vier Wochen nach der Operation kein Auto zu führen.

Ob diese Fahrverbote in der Dauer ausreichend waren, spielt eigentlich keine Rolle. Denn an beide hat sich der Angeklagte nicht gehalten. Er fuhr bereits im Juni 2019, einen Monat nach dem ersten Anfall, wieder Auto. Und er saß auch Ende August 2019, drei Wochen nach der Hirn-OP in der Schweiz, wieder hinter dem Steuer. "Nur gelegentlich und kurze Strecken", erklärte der Angeklagte zu seiner Verteidigung. Genau darin sahen die Nebenklage-Vertreter allerdings einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich der Angeklagte sehr wohl der Gefahren des Autofahrens bewusst war.

Die Fahrverbote der Charité und des Schweizer Professors seien beim Angeklagten nur als Empfehlungen angekommen, entgegnete die Verteidigung. Niemand habe ein echtes Verbot ausgesprochen, niemand habe dem Angeklagten gesagt, dass er an einer strukturellen Epilepsie leide, dass jederzeit ein neuer Anfall auftreten könne, dass die OP-Narbe im Gehirn neue Anfälle auslösen könne.

"Mein Mandant ging davon aus, dass mit der Entfernung des Tumors keine Gefahr mehr besteht", erklärte Robert Unger. Michael M. habe keinen Grund mehr gehabt, nach der Operation an seiner Fahrtauglichkeit zu zweifeln. "Er fühlte sich an jenem Tag gut, sonst hätte er niemals seine Tochter und seine Mutter mit ins Auto steigen lassen."

Angeklagter "vor allem traurig über sich selbst"

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Damit kam der Prozess wieder am ersten Prozesstag an. "Es gab überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, dass ich irgendwann nochmals einen epileptischen Anfall erleiden könnte", hatte der Angeklagte da persönlich erklärt. Was die Anwältin der Nebenklage, Christina Clemm, mit Kopfschütteln quittierte. "Wir sind eher empört über die Einlassung, als dass sie irgendwie zur Beruhigung beigetragen hätte", sagte Clemm. Der Angeklagte habe viel über sich gesprochen und sich als Opfer dargestellt. Rechtsanwalt Peer Stolle, der die Familie des getöteten Briten vertritt, erklärte, der Unfall sei vermeidbar gewesen, "hätte sich der Angeklagte einfach an den ärztlichen Rat gehalten". Die Beileidsbekundungen von Michael M. halte er für unangebracht. Michael M. sei offenbar "vor allem traurig über sich selbst". Die Entschuldigung bei den Hinterbliebenen komme mehr als zwei Jahre nach dem Unfall zudem zu spät.

Die meisten Angehörigen der Opfer, die auch als Nebenkläger auftraten, fanden in den zurückliegenden dreieinhalb Monaten übrigens nicht die Kraft, an dem Prozess gegen Michael M. teilzunehmen. Ihre Anwälte gaben ihrem Leid eine Stimme. Anwältin Clemm verlas die Erklärung der 38-Jährigen, die bei dem Unfall ihren Sohn und ihre Mutter verlor: "Wir krümmen uns vor Schmerz. Wir weinen und weinen und weinen."

(Dieser Artikel wurde am Donnerstag, 17. Februar 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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