
Es geht ruhig zu dieser Tage am Flughafen Berlin-Tegel.
(Foto: picture alliance/dpa)
Von den einen geliebt, von anderen gehasst: Wegen der Corona-Krise macht der Flughafen Tegel schon in 25 Tagen wohl für immer dicht. Der Schritt mag überfällig sein, dennoch ist das Ende von TXL ein Verlust für die deutsche Hauptstadt.
Das Schlimmste an diesem Abschied ist: Er geschieht leise. Das mag auf den ersten Anblick angemessen wirken für eine Beerdigung. Doch der Beizusetzende war für vieles bekannt, aber nicht für seine Stille. Der Flughafen Berlin-Tegel "Otto Lilienthal" ist für viele Berliner immer zu hören gewesen. Für die Menschen im Norden der Stadt war der Fluglärm permanente Belastung. Und die Bewohner der am stärksten betroffenen Bezirke Reinickendorf und Spandau wundern sich seit Beginn der Corona-Krise über den Krach von Autos und Vögeln, die sie bis dato noch nie vernommen hatten. In Reinickendorf soll es Menschen geben, die schwer einschlafen, seit ihre Häuser nicht mehr im Minutentakt erzittern vom Vorüberflug 60.000 Kilo schwerer Alu-Kolosse in wenigen hundert Metern Höhe.
Der Flughafen Tegel wird wegen seiner Pandemie-bedingt geringen Auslastung voraussichtlich am 15. Juni vorübergehend geschlossen. Je 14 Starts und Landungen verzeichnet der Flughafen an diesem Mittwoch. Der eben noch vor Kraft strotzende, die Kapazitäten des verzögerten BER stemmende Flughafen tritt wegen Corona sang- und klanglos vorzeitig ab. Es ist nicht damit zu rechnen, dass Tegel - wie Berliner den Flughafen nennen - noch einmal öffnet.
Kein letztes Balgen um Bus und Taxi
Die Flughafengesellschaft Berlin-Brandenburg (FBB) geht von einer Inbetriebnahme des Flughafens BER im Herbst dieses Jahres aus. Weil der um neun Jahre verspätete Hauptstadtflughafen zur Krönung seiner Peinlichkeit inmitten der größten Krise der Luftfahrtbranche öffnet, wird er die dann niedrige Auslastung wohl auch im Fall von erneut auftretenden Schwierigkeiten stemmen können.
Viele Tegel-Fans bleiben traurig zurück. Das gilt insbesondere für Geschäftsreisende, die den Airport wegen seiner Innenstadt-nahen Lage zu schätzen wussten. Die meisten haben wegen der Pandemie keine Möglichkeit, sich im Bewusstsein des allerletzten Males um einen Platz im überfüllten Zubringerbus TXL zu schlagen oder trickreich die lange Taxi-Warteschlange abzukürzen.
Mehr als nur ein Flughafen
Tatsächlich schließt in 25 Tagen eine Ikone des alten Westberlin. Als das neue Terminal Süd vor mehr als 45 Jahren eingeweiht wurde, war das der Anfang vom Ende des noch zentraler gelegenen Flughafens Tempelhof. Tegel, das erst 1988 den Namen des Flugzeugpioniers Lilienthal erhielt, wurde zur Eröffnung gepriesen als "modernster Flughafen Europas" und war nicht weniger als das Tor zur Welt für die eingemauerten Westberliner. Bahnreisende und Pkw-Fahrer gelangten nur nach langer Fahrzeit durch Zonengebiet in die Bundesrepublik und bekamen es dabei stets mit zumeist unangenehm auftretenden Grenzbeamten und Kontrolleuren der DDR zu tun.
Auch aus Sicht von Architekten ist das vielfach ausgezeichnete Terminal in Form eines Hexagons eine Meisterleistung. Tegel ist steingewordenes Symbol für Unabhängigkeit und Aufbruch in eine Moderne, in der Deutschland ein Platz gewährt wurde inmitten freier, der Zukunft zugewandter Staaten. Die farbenfrohe Innengestaltung mag heute antiquiert wirken, aber sie ist zumindest Design mit Mut zur Eigenwilligkeit. Tegel spiegelt den Optimismus einer vergangenen Epoche, als das Land jung und die Versprechen des Fortschritts endlos waren.
In der Rückschau steht das Tegel-Layout noch für eine ganz andere, verlorene Freiheit: In den 70ern, als das Automobil noch für jedermann Unabhängigkeit und Spaß versprach, war Tegel an den Bedürfnissen des Pkw-Fahrers ausgerichtet. Die Passagiere konnten in der Mitte des Hexagons parken und von da binnen weniger Minuten zur ihrem Flugzeug gelangen. Check-In und Sicherheitskontrollen wurden direkt am Gate vorgenommen. Nachdem sich aber in den Folgejahren Anschläge und Entführungen in Verbindung mit Flugzeugen häuften, machten neue Sicherheitskonzepte dieses 1974 noch gefeierte Konzept zunichte.
Mehr Mall als Flughafen
Überhaupt, die einzelnen Gates: Mit der Tegel-Schließung endet auch die Höflichkeit, dass (fast) jeder einzelne Flug seine eigene Check-In- und Boarding-Prozedur hat. Die Fluggäste treffen sich einmal im überschaubaren, gemeinsamen Warteraum. Wer beruflich nach München fliegt, trinkt seinen Morgenkaffee an der Bar zusammen mit einigen der gleichen Menschen, mit denen er am Abend die Heimreise zur Familie antritt. Wer in den Urlaub düst, scannt die Mitfliegenden nach Menschen, die womöglich dieselbe Ferienanlage gebucht haben. Rucksackreisende treffen auf Gleichgesinnte, noch bevor sie einen Fuß auf den Boden des gemeinsamen Reiselandes gesetzt haben.
Natürlich ist die ganze Anlage aus heutiger Sicht ineffizient, beengt und mitunter beschämend, weil Design und Abnutzungsgrad jüngere Berlin-Besucher eher an das erinnert, was sie sich unter der DDR vorstellen mögen. Der BER wird dagegen ein moderner, den Anforderungen seiner Zeit entsprechender Flughafen sein, mit weiträumigem Wartebereichen und viel Platz für Shopping und Gastronomie. Aber eben auch mit dem anonymen Charme eines Einkaufzentrums, das so genauso auch in Paderborn oder Phnom Penh stehen könnte.
Begrenzte Vorfreude auf den BER
Zum wegfallenden Charme gehört auch der fehlende Überflug über Berlin. Wer von Tegel aus nach Süden fliegt oder von dort kommt, dem wird bei Fensterplatz und gutem Wetter ein unvergleichlicher Blick auf die Stadt geboten. Stadtbewohner spähten nach ihrer Wohnadresse, Party-Touristen konnten das Berghain entdecken.
Das ist ebenso Vergangenheit wie die kurzen Wege. Trotz fehlenden Bahnanschlusses ist Tegel immer gut erreichbar gewesen, solange die Straßen nicht verstopft waren. Für viele Stadtbewohner ist der BER ungleich schlechter gelegen. Das umliegende Straßennetz hat begrenzte Kapazitäten. Die angeschlossene Berliner S-Bahn ist zwar unabhängig vom übrigen Verkehr, schlägt sich aufgrund ihrer hohen Auslastung aber mit eigenen Zuverlässigkeitsproblemen herum.
Kurz: Die Vorfreude der Berliner auf den BER hält sich in Grenzen. Zumal sie seit Jahren selbst im korruptionsverseuchtesten Reiseland für diese unfassbare Bauverzögerung belächelt werden. Schlimmer: Zuletzt gab es nur noch Mitleid, nicht einmal mehr Spott. Die Baukosten von - je nach Lesart - sechs bis sieben Milliarden Euro haben sich zum Glück nicht überall herumgesprochen. Immerhin bleiben Flughafengesellschaft und Senat nicht wegen Corona auf den Kosten einer gestrichenen Eröffnungssause sitzen. Es war gar keine geplant.
TXL spielt BER
Tegel hingegen hätte eine Feier verdient gehabt, schon allein um diese unfassbare Leistung der vergangenen Jahre zu würdigen: 24 Millionen Fluggäste verzeichnete TXL im Rekordjahr 2019. Das ist nicht nur ein Vielfaches dessen, wofür Tegel errichtet worden ist. Es übersteigt die noch 2014 anvisierte Kapazität des BER um zwei Millionen. Dieser soll nun nach etwas Umgestaltung und bei Offenhaltung des alten Flughafens Schönefeld mehr als 30 Millionen Fluggäste schaffen können. Langfristig sollen Ausbauten sogar 55 Millionen Fluggäste allein über den BER ermöglichen. Ob die tatsächlich gebraucht werden, kann zu Beginn der Corona-Wirtschaftskrise niemand vorhersagen.
Für Tegel-Fans war die große Leistungsschau des Flughafens kurz vor seiner Schließung bestes Argument, die Anlage doch weiterzubetreiben. Einen knapp erfolgreichen Volksentscheid der Befürworter hat der Senat faktisch ignoriert. Allein den vielen Menschen, die im Umfeld Tegels gebaut und gekauft, Wohnungen gemietet und Gärten gepachtet haben, ist die Stadt das überfällige Ende des Fluglärms schuldig.
Zumal wegen des voll ausgelasteten Flughafens zuletzt bis zu 2500 Flugzeuge pro Monat über weite Flächen dicht bewohnten Stadtgebiets gestartet und gelandet sind. Dass in diesen kritischsten Phasen eines jeden Fluges nie ein Unglück passiert ist, ist wesentlicher Baustein der TXL-Erfolgsstory. Die Stadt hat ihren Flughafen und dessen Glück ausgereizt. Das Gebäude bleibt ihr erhalten, das Terminal wird eine Hochschule beherbergen und soll Zentrum der Urban Tech Republic sein, ein Standort für Forschung und Startups. Tegel dient den Berlinern auch in Zukunft als Tor zur Welt, nur zu einer ganz anderen.
Quelle: ntv.de