Jahrelanger Missbrauch Britische Behörden versagen und Elon Musk macht es nicht besser


Die Polizei fühlte sich von den Hilferufen des Vaters genervt, sagt West.
(Foto: picture alliance / dpa)
Scarlett ist 13, als sie im britischen Rotherham Opfer von systematischem Missbrauch wird. Ihr Vater steht den organisierten Banden hilflos gegenüber, die Polizei lässt die Familie im Stich. Die Einmischung von Tech-Milliardär Musk sieht er zwiespältig.
Ein investigatives Journalisten-Team bei der britischen "Times" deckte 2012 systematisches Versagen der Behörden im englischen Rotherham auf. Eine anschließende Untersuchung ergab, dass über 16 Jahre hinweg mindestens 1400 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung und sexueller Ausbeutung wurden. Das Problem: Die Täter waren vor allem pakistanischer Abstammung und die Behörden hatten Angst vor der Unterstellung, sie würden rassistisch vorgehen, sollten sie diese Männer festnehmen.
Kurz darauf wurde bekannt, dass es Versagen wie dieses in mehreren englischen Städten gegeben hatte. Seitdem sich Tech-Milliardär Elon Musk im Januar mit einigen Tweets in genau diesen Skandal einmischte, herrscht auf der britischen Insel große Diskussion: Braucht es eine erneute, landesweite Untersuchung, geleitet von der Regierung, um dafür zu sorgen, dass es nicht wieder zu solchen Vorfällen kommt?
Scarlett war erst 13 Jahre alt, als sie Probleme mit einer örtlichen Bande bekam. Sie wurde angegriffen, wurde Opfer sexueller Gewalt. Bis zu diesem Tag war Scarlett ein glückliches Mädchen, sagt ihr Vater Marlon West. Sie habe es geliebt zu reiten, bekam gute Noten in der Schule. Doch nur kurz darauf bemerkte Marlon, wie seine Tochter sich veränderte. "Ihre Persönlichkeit hat sich von einem auf den anderen Tag verändert. Sie ist immer öfter von zu Hause abgehauen, was sie vorher nie getan hat, und sie hatte plötzlich sehr viel Geld", erzählt er ntv.de.
West sagt, er habe sofort ein schlechtes Gefühl gehabt, wusste aber nicht genau, was mit seiner Tochter passierte. Heute weiß er, dass Scarlett sich mit einer Frau anfreundete, die ihr Sicherheit und Geld versprach. Es war der Beginn einer langen und schrecklichen Zeit für Vater und Tochter. Das war Anfang 2019.
Alkohol, Sex, Erinnerungslücken
Mit nur 14 Jahren blieb Scarlett plötzlich regelmäßig, teils wochenlang, von zu Hause fern. Marlon West verbrachte die Nächte damit, seine Tochter zu suchen. Manchmal fand er sie in der Wohnung eines fremden Mannes, manchmal im Auto mit einem älteren Herren, oft fand er sie gar nicht. Die Frau, von der Scarlett dachte, es sei ihre Freundin, lieh die Teenagerin an Männer aus, die sie oft unter Drogen setzten und vergewaltigten.
Scarlett erzählte ihrem Vater später, wie sie morgens aufwachte, nicht wusste, wo sie war; um sie herum Alkohol, Drogen, Sexspielzeuge und leere Kondompackungen. An ihren Armen, Beinen und auch am Hals fand sie dann oft blaue Flecken. Was genau mit ihr in der Nacht passiert war, wusste sie nicht.
"Diese Frau hat sie nach und nach gegen ihre Familie aufgehetzt. Hat ihr immer wieder gesagt, dass wir uns nicht um sie kümmern, dass sie uns egal ist, weil wir ihr kein Geld geben. Ich kann es nur so erklären, dass es wie eine Sekte war, Gehirnwäsche", sagt Marlon West. Immer wieder wendet sich der Vater damals an die Polizei, meldet seine Tochter fast jede Nacht als vermisst, doch die Polizei hilft nicht. "Das erste Mal, als ich sie vermisst gemeldet habe, haben sie es noch ernst genommen, dann nicht mehr. Einmal haben mich die Polizei und das Jugendamt sogar angeschrien, ich solle endlich aufhören, meine Tochter als vermisst zu melden."
Und das, obwohl die Polizei Scarlett manchmal sogar findet - immer in der Gegenwart von älteren Männern, viele davon pakistanischer Herkunft. Doch wenn sie sie dann zu Hause ablieferten, sagten sie zu ihr, sie solle kurz warten, bis sie weggefahren seien und dann könne sie wieder weglaufen. "Die Polizei dachte, es sei eine Lifestyle-Entscheidung von Scarlett, dass sie dieses Leben selbst wollte. Aber sie war ja noch ein Kind", so Marlon West.
Warten auf das Schlimmste
Er hatte schnell das Gefühl, sich nicht mehr um seine Tochter kümmern zu können und bat das Jugendamt, sie in ein Heim aufzunehmen. Der Vater erhoffte sich davon zum einen mehr Sicherheit für seine Tochter, aber auch, dass die Behörden mitbekommen würden, was mit Scarlett passiert. Doch das Einzige, was sich durch den Aufenthalt im Heim verbesserte, war Scarletts Anwesenheit in der Schule. Mit ihren Vergewaltigern traf sie sich trotzdem weiter.
"Die ersten Male, als sie einfach verschwand, hatte ich solche Angst. Aber so schlimm es klingt, man gewöhnt sich dran. Ich habe mit der Erwartung gelebt, dass ich irgendwann den Anruf bekomme, dass Scarlett tot ist", erinnert sich Marlon West. Er sagt, das Problem sei, dass die Polizei und auch die Behörden nicht genügend geschult werden, um sich mit Fällen sexueller Ausbeutung zu beschäftigen. Viele der Polizeibeamten seien völlig falsch vorgegangen, wenn sie Scarlett vernommen haben, und hätten so den psychischen Schaden bei ihr noch verschlimmert.
Die "Medizinische Kinderschutzhotline" ist ein vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördertes, bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichbares telefonisches Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch.
Medizinische Kinderschutzhotline: 0800 -19 210 00
Auch die Gesetzeslage müsse sich ändern. Denn der sogenannte "Children's Act", das Gesetz, das hier greifen würde, stammt aus den 1980er Jahren und ist veraltet. "Dies sind Kinder, die können nicht verstehen, welche Konsequenzen ihr Verhalten hat, auch für sie selbst. Sie bekommen Drogen, Geld, denken am Anfang, es sei aufregend, dieses Leben zu leben, aber diese Entscheidung können sie als Kinder gar nicht bewusst selbst treffen", sagt Marlon West.
Hilfe von Musk?
In mehreren Posts auf seiner Social-Media-Plattform X griff Elon Musk vor einigen Wochen besonders den britischen Premierminister Keir Starmer und die Ministerin für Sicherheit im Innenministerium, Jess Phillips, an. Sie hatten sich gegen eine nationale, von der Regierung geleitete Untersuchung zu sexueller Ausbeutung von Kindern im Land ausgesprochen. Starmer leitete zur Zeit des Rotherham Skandals die Staatsanwaltschaft, den Crown Prosecution Service, der damals eingestehen musste, Fehler begangen zu haben. Erst nach der Times-Recherche wurden die Vergewaltiger tatsächlich verhaftet und vor Gericht gebracht. Daraufhin führte Starmer einige Änderungen ein, die es einfacher machen sollten, Vergewaltigungs-Banden in Zukunft zur Rechenschaft zu ziehen.
Am 6. Januar stimmte eine Mehrheit im britischen Parlament gegen eine nationale Untersuchung zum Stand sexueller Ausbeutung und Vergewaltigungs-Banden. Marlon West hält das für einen Fehler. Er sagt, die vorherigen Untersuchungen, durchgeführt von lokalen Behörden, hätten nichts verändert. Die Situation würde sogar schlimmer. "Ich habe gemischte Gefühle zu Elon Musks Post", sagt er. "Ich bin froh, dass er auf die Situation aufmerksam gemacht hat, weil ich das seit so vielen Jahren versuche und erfolglos dabei bin. Aber er sollte nicht Jess Phillips angreifen, die so viel für die Opfer und ihre Familien getan hat, und erst recht sollte er sich nicht in unsere Politik einmischen."
Heute, sechs Jahre nachdem Scarlett das erste Mal von zu Hause verschwand, lebt sie in ihrer eigenen Wohnung. Marlon West muss sie zwar nicht mehr nachts suchen, aber besser geht es ihr auch nicht. "Sie ist gefangen in ihrem eigenen Zuhause. Sie geht nicht mehr raus, sie ist komplett isoliert und hat schlimme Angst. Fast jede Nacht ruft sie mich weinend an." Scarlett bräuchte dringend psychologische Betreuung, sagt er, doch darauf warten sie vergebens. Der Vater selbst habe privat für einige ihrer Therapiestunden bezahlt, doch das wurde auf Dauer zu teuer. Und so kämpft er weiter, für ein besseres Leben für seine Tochter, sich selbst und die vielen anderen Betroffenen. Gerade bereiten Marlon West und seine Anwälte eine Klage vor - gegen die Polizei und die Sozialbehörden in Manchester, die seine Sorgen so lange nicht ernst genommen haben.
Quelle: ntv.de