Stadt in Schockstarre Der Horror in der heilen Welt
08.04.2018, 14:19 Uhr
Die Gaststätte "Kiepenkerl" am Tag nach der Amokfahrt. Gestern, an einem der ersten warmen Tage des Jahres, war es hier voll.
(Foto: imago/Revierfoto)
Lebenswert, beschaulich, ein bisschen heile Welt - so wird Münster oft beschrieben. Niemand hat dort mit einem derartigen Akt der Gewalt gerechnet. Am Tag nach dem Anschlag mit drei Toten steht die Stadt unter Schock.
Münster ist wie leergefegt. An einem der zahllosen wolkenverhangenen Tage, die es in der Stadt im Jahr gibt, wäre das auch kaum verwunderlich. Doch heute scheint die Sonne. Und wenn die Sonne scheint, gehen die Münsteraner in der Regel gerne in die Stadt. Es sind kaum Menschen in den Gassen der Altstadt und auf den Plätzen unterwegs. Und nur ganz wenige sitzen in den Straßencafés. Das Unfassbare, das sich hier gestern abgespielt hat, ist einfach noch zu nah.
Auch gestern war ein sonniger Tag und die Stadt war voll. Die Tische der Gaststätte "Kiepenkerl" im Herzen der Altstadt sind voll besetzt an einem der ersten warmen Tage des Jahres. Und dann wird aus der frühlingshaften Szenerie schlagartig plötzlich eine Kulisse des Grauens. Im beschaulichen Münster hält der Horror Einzug. Ein Campingbus rast in die Menge. Tische und Stühle ineinander verkeilt; auf dem Platz leblose Körper, Verletzte. Zeugen der unfassbaren Tat laufen umher, versorgen Verletzte, rufen Polizei und Krankenwagen.
"Gottseidank war es kein Islamist"
Schnell ist klar: Es war kein Unfall. Das Muster der Tat ist inzwischen bekannt. Und so scheint es zunächst wenig Zweifel zu geben, wer hinter dem Steuer gesessen haben könnte und welcher Religion er angehört. Zwei Menschen sterben noch vor Ort, mehrere werden lebensgefährlich verletzt. Erinnerungen an die Anschläge der Terrormiliz Islamischer Staat in Nizza oder Berlin werden wach. Doch es ist ganz anders.
"Gottseidank war es kein Islamist", sagt Elisabeth F., die am Tag nach der Tat das Treiben am Tatort beobachtet und ein paar Straßen weiter wohnt. Die Spurensicherung hat ihre Arbeit noch gestern abgeschlossen, die Straßenreinigung bereits saubergemacht. Polizisten und Journalisten drängeln sich rund um die Absperrung. Aber ergebe es denn einen Unterschied, ob es nun ein Islamist oder ein Deutscher war? "Ja", sagt Elisabeth, "weil dann die ganze Hetze wieder losgeht und die politischen Diskussionen". Sie hofft, dass die Reaktionen nun besonnener bleiben.
Mit dem Kleinbus ist der Täter eine Kopfsteinpflasterstraße in der Altstadt Münsters hinabgefahren und hat den Wagen auf den Platz vor der Gaststätte gelenkt. Die Straßen in diesem Teil der Stadt sind eng, nahe dem "Kiepenkerl" parken oft Taxis am Straßenrand. Und so berichten Zeugen, dass der Wagen mit nicht besonders hoher Geschwindigkeit in die Menschenmenge gefahren sei. Viele hätten rechtzeitig fliehen können. Einige haben es nicht geschafft. Zeugen dürften aber auch ein anderes Detail beobachtet haben: Kurz nachdem der Wagen zum Stehen kam, gab es einen Knall. Der Fahrer hat sich nach der Tat selbst erschossen.
In der kranken Logik des Dschihadismus ist genau das verboten. Wer sich den Zugang zum "Paradies" mit einem Anschlag auf Ungläubige "erkaufen" will, muss im Kampf sterben oder durch seinen eigenen Tod auch andere töten - und zwar unmittelbar, also etwa mit einem Sprengstoffgürtel. Und so gibt es bereits kurz nach der Tat erhebliche Zweifel daran, dass Islamisten hinter dem Anschlag stecken könnten.
Auto als Werkzeug - das ist neu
Wenig später steht fest: Am Steuer saß Jens R. aus dem Sauerland. Der 48-Jährige soll schon lange in Münster gelebt und in der Vergangenheit erhebliche psychische Probleme gehabt haben, wird berichtet. R. sei drogenabhängig gewesen, polizeibekannt aufgrund von Beschaffungskriminalität. Vor kurzer Zeit habe er einen Suizidversuch unternommen. Wenige Stunden nach dem Anschlag stürmt ein Spezialeinsatzkommando der Polizei die Wohnung des Täters. Da sie nicht wissen, was sie dahinter erwartet, sprengen die Beamten die Wohnungstür auf. Sie finden ein AK47-Sturmgewehr, das sich später als Dekorations-Waffe herausstellt, Feuerwerkskörper, sonst offenbar nichts Verdächtiges. Die lokale Presse berichtet, Ermittler hätten in der Wohnung Gegenstände mit rechtsextremem Bezug gefunden. Belastbar seien diese Informationen jedoch nicht.
Es gibt bisher nicht den geringsten Hinweis auf eine islamistisch motivierte Tat. Auch das Sprachrohr der Terrormiliz Islamischer Staat hat bis jetzt kein Bekenntnis abgeschickt, obwohl die Islamisten in jüngster Vergangenheit gerne Taten für sich beansprucht hatten, die sie nachweislich nicht begangen haben. Eine Verbindung gibt es möglicherweise dennoch. Denn es ist nicht abwegig, dass sich der Täter von vergangenen islamistischen Anschlägen hat inspirieren lassen. Das Auto als Werkzeug für einen erweiterten Suizid oder einen Amoklauf – das ist neu.
Amokläufer und Terroristen können jederzeit zuschlagen und es ist kaum möglich, sich darauf vorzubereiten. Plötzlich sterben Unschuldige. Dennoch gibt es neuralgische Orte, an denen man eher mit solchen Taten rechnen würde: die Metropolen, Flughäfen, Bahnhöfe. Ein Ort, der nicht in dieses Schema zu passen schien, ist Münster.
"Es war so ein schöner Tag"
Am Tag nach dem mörderischen Anschlag sind die Münsteraner fassungslos. "Das ist mein täglicher Weg zur Arbeit, zum Markt", sagt Fritz K., der an dem Ort steht, wo viele Menschen, später auch Bundesinnenminister Horst Seehofer, Blumen niederlegen. "Das ist so unwirklich, ich hätte nie gedacht, dass in Münster so etwas passieren kann. Es war so ein schöner Tag", sagt er. Fritz' Stimme bebt. Viele Münsteraner sind auch deswegen so fassungslos, weil ihre Stadt sonst ein sehr gemütlicher, friedlicher Ort ist.
Im Zusammenhang mit der Studentenstadt in Westfalen wird gerne das Adjektiv "beschaulich" verwendet. Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind niedrig, das Durchschnittseinkommen höher als in den meisten Städten Nordrhein-Westfalens. Die Strukturprobleme der nahen Ruhrgebietsstädte scheinen hier ganz weit weg zu sein. Rund 50.000 Studenten besuchen die Universität, Münster gilt als weltoffen, grün, ein bisschen konservativ. Münster ist ein bisschen heile Welt. Doch durch den Anschlag hat diese einen tiefen Kratzer bekommen.
Nach dem Anschlag spielten sich an der Blutspendestation der Universitätsklinik bemerkenswerte Szenen ab. Zwischen 10 und 14 Uhr sollte ein regulärer Blutspendetermin stattfinden. Am Nachmittag kamen die schrecklichen Nachrichten und das Team legte eine Extra-Schicht ein - bis 22 Uhr. Vor der Tür jedoch standen hunderte Menschen, die helfen wollten. Die Blutspende wurde dann bis spät in die Nacht fortgesetzt.
Die Sache mit der Blutspende betont auch die Studentin Carolina E., die auf dem Weg zu einem Gottesdienst ist, um der Opfer zu gedenken. "Das beschreibt ganz gut das Lebensgefühl in dieser Stadt", sagt sie. "Aber Verrückte gibt es eben überall, auch im verschlafenen Münster."
Quelle: ntv.de