Sprengstoff in den Niederlanden "Diese Praxis der Einschüchterung hat sich durchgesetzt"
10.12.2024, 17:58 Uhr Artikel anhören
In Den Haag stürzt ein dreistöckiges Wohnhaus nach einer Explosion am Samstag ein.
(Foto: IMAGO/ANP)
Der gefährliche Handel mit Sprengstoff und schweren Knallkörpern hat eine jahrzehntelange Tradition in den Niederlanden. Jedoch hat die Bedrohungslage stark zugenommen, warnt der Kriminologe Cyrille Fijnaut.
ntv.de: Herr Fijnaut, woher stammt das alarmierende Phänomen der Anschläge mit Sprengstoffen?
Das hat in den Niederlanden gewissermaßen Tradition, aber in den letzten Jahren noch einmal enorm zugenommen. Mit Feuerwerkskörpern Bomben bauen, das gab es immer schon, vor allem in Den Haag. Schon vor einem Vierteljahrhundert beschlagnahmte die Polizei zehntausende Kilo Sprengstoff im Jahr. Es steht aber eine immer größere Menge an explosivem Material zur Verfügung. Mittlerweile findet die Polizei auch in Deutschland auf früher militärisch genutztem Gelände große illegale Bestände.
Vor drei Jahren wurden 212 Anschläge verübt, 2022 waren es 439 und im letzten Jahr gar 901.
Ja, das ist eine gefährliche Entwicklung. Die Mehrheit wird in den Großstädten Rotterdam, Den Haag und Amsterdam verübt. Vor allem im dicht besiedelten "Randstad"-Bereich, im Westen des Landes.
Ein Fünftel der Explosionen soll laut Polizei einen kriminellen Hintergrund haben. Aber viele Unbeteiligte werden getroffen. Im November wurde ein Anschlag auf einen Spielerbus der Fussballjugend von Feyenoord Rotterdam verübt.
Ja. Und in der gleichen Stadt gab es einen Toten, als ein Wohnhaus als Drogenlabor missbraucht wurde. Wir wissen, dass es um Konflikte zwischen Kriminellen gehen kann. Aber auch Streit im sozialen Umfeld oder gar in Familien wird so hart ausgetragen. In Vlaardingen bei Rotterdam wurden mehrere Sprengstoffanschläge auf das Haus eines Klempners verübt, in der Provinzhauptstadt Den Bosch war wahrscheinlich ein Konflikt in der Dachdeckerzunft der Grund für eine ähnliche Serie. Mittlerweile hat sich diese Praxis der Einschüchterung durchgesetzt. Die Gewalttätigkeit in den Niederlanden ist nicht zu unterschätzen.

Der Professor und ehemalige Polizist Fijnaut forscht seit Jahrzehnten zu Kriminalität in den Niederlanden.
(Foto: privat)
Es scheint, dass viele junge Männer die Explosionen ausführen. Gibt es ein Reservoir für diesen Terror?
Ja. Tausende Jugendliche sind in den lokalen Drogenhandel involviert. Es gibt eine gigantische Drogenindustrie. Die Niederlande sind mit ihren Häfen nicht nur Einfuhrland für Drogen, sondern seit den Neunzigern auch Produktionsland. Für Cannabis allemal, aber auch für synthetische Drogen. Es gibt sehr viele Drogenlabore, überall im Lande. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir das, was Kolumbien für Kokain ist.
Wie wahrscheinlich ist ein Export der niederländischen Kriminalität nach Deutschland? Um Köln ist die niederländische Drogenmafia aktiv. Es gibt Berichte über Sprengstoffanschläge, Entführungen und Folter. Und im Hamburger Hafen holen niederländische Jugendliche Kokain aus Containern. Und dann noch die Angriffe auf Banken.
Ja, man sieht viele Hunderte Automatensprengungen in Deutschland. Das sind hauptsächlich niederländische Banden. Unsere Behörden und Banken waren da aktiver als bei Ihnen. Laut BKA hat sich die Anzahl auf sehr hohem Niveau stabilisiert. Die Polizei der beiden Länder tauscht sich inzwischen gut aus.
In den niederländischen Medien ging es nach den Liquidierungen von den Starjournalisten Peter de Vries und Anwalt Derk Wiersma um die "Mocro-Mafia". Ist der Begriff irreführend?
Ja, mittlerweile schon. Die Banden haben einen sehr multikulturellen und auch niederländischen Hintergrund. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft.
Mit Cyrille Fijnaut sprach Rob Savelberg
Quelle: ntv.de