"Unbezahlbare Momente" Fußball und Krieg - wie Ukrainer das hinbekommen


Fan sein in Zeiten des Krieges ...
(Foto: Sergey Panashchuk)
Der Krieg in der Ukraine geht weiter, das Land ist bei der Fußball-EM inzwischen ausgeschieden. Was aber allein die Teilnahme mit den Fans, und allen anderen, vor allem den Soldaten an der Front, macht, beschreibt unser Autor für ntv.de.
Jeder Tag in der Ukraine ist ein Kampf. Egal, ob Soldat, Zivilist oder alleinerziehende Mutter, jeder durchlebt seinen eigenen Kampf. Jetzt, zur EM, ist Fußball nicht bloß eine Sportart für Ukrainer - Fußball ist ein Stück Hoffnung während des Krieges und ein Blick auf die Normalität. Viele Menschen, nicht nur Fußballfans, versammelten sich in den Kneipen und Restaurants im ganzen Land, um die ukrainische Nationalmannschaft zu unterstützen und diesen Hauch der Hoffnung zu atmen - der Hoffnung, dass das Leben eines Tages wieder normal sein wird.
Ein kurzer Blick in die jüngste Geschichte zeigt, dass Fußball eine entscheidende Rolle im Krieg spielt und die Ukraine aufgrund des Fußballs und der Fußballfans immer noch unabhängig und in der Lage ist, gegen die Russen zu kämpfen. Ultras und Hooligans waren eine der treibenden Kräfte bei den Protesten gegen die pro-russische Regierung des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch Ende 2013 und Anfang 2014.

Was denken Männer in der Ukraine, wenn sie andere Männer in deutschen Stadien in Fan-Klamotten sehen? Der Autor hat gemischte Gefühle. "Das ist vollkommen surreal. Wer sind die?" Er fühlt sich ihnen nicht verbunden, verurteilt sie aber auch nicht.
(Foto: Sergey Panashchuk)
Die Maidan-Proteste, auch als "Revolution der Würde" bezeichnet, markierten einen Wendepunkt in der ukrainischen Geschichte, der die demokratische Umgestaltung des Landes und die Entwicklung der Zivilgesellschaft entscheidend vorantrieb. Denn in den folgenden Jahren kam es in der Ukraine zu einer Reihe demokratischer Veränderungen, europäische Werte und das gemeinsame Ziel, das Land zu transformieren, einte viele Ukrainerinnen und Ukrainer. Bis sie 2022 den Kampf für ihr Land und ihre Werte auf viel brutalere Weise fortsetzen mussten.
Wenn Ultras die Russen aufhalten
Bald darauf schlossen sich damals Tausende Ultras der Armee an, um nach der Annexion der Krim und der russischen Besetzung der Gebiete Donezk und Luhansk im Donbass gegen russische und prorussische Soldaten zu kämpfen. Ultras spielten eine entscheidende Rolle für die politische Stabilität der Region Odessa: Als am 2. Mai 2014 prorussische Extremisten versuchten, die Stadt zu erobern, wurden sie von Fußballfans von Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw sowie Einheimischen, die nicht unter russischer Herrschaft leben wollten, aufgehalten.
Yuri Prazdnikov, heute 44, Freiwilliger und Miteigentümer des Wohltätigkeitsprojekts "Varnia Sviata" (Anm. d. Red.: "Varnia Sviata" ist ein Ort, der für die Rehabilitation von Soldaten und Freiwilligen bestimmt ist, wo sie Beratung und Unterstützung erhalten und Zeit mit ihren Freunden bei einem Bier und einem Snack verbringen können), war Augenzeuge und nahm an den Kämpfen teil. Er erinnert sich: "Wir wussten, dass von Russland bestochene 'asoziale Elemente', wie wir sie hier nennen, sich darauf vorbereiteten, Zusammenstöße zu inszenieren. Zuerst fuhr ich mit dem Fahrrad hin und her und berichtete an unsere Leute, wo die Pro-Russen sich aufhalten könnten. Als sie den Grecheskaya-Platz erreichten, begannen sie, auf uns zu schießen. Wir hatten zwar keine Schusswaffen, waren aber besser organisiert und hatten den absoluten Willen, die prorussischen Angriffe abzuwehren. Wir schlugen sie in die Flucht, sonst wäre Odessa schon seit 2014 in russischer Hand."
Symphonie der Generatoren
Yuri war Teil des provisorischen medizinischen Evakuierungsteams. Seine Leute und er nahmen Verwundete mit, stoppten Autos und schickten oder brachten Verletzte selbst in Krankenhäuser. "Dabei haben wir übrigens nicht geprüft, ob die verletzte Person unsere politischen Ansichten teilte oder nicht", ergänzt er. "Wir haben einfach nur Menschenleben gerettet." Die Ereignisse vom 2. Mai prägten die Zukunft von Odessa, da allen klar war, dass prorussische Kräfte die Stadt nicht übernehmen würden. Vorerst.
Präzise und gezielte Angriffe Russlands legten das ukrainische Energiesystem im ganzen Land dennoch lahm und stürzten es in endlose Stromausfälle. Aber die Ukrainer sind eine Nation von Überlebenskünstlern und Problemlösern: Anstatt also nur herumzusitzen und zu warten, bis sich die Situation im Energiesektor bessert, kauften lokale Geschäftsleute unzählige Generatoren, große, kleine, egal, Hauptsache, sie laufen mit Benzin, Diesel oder Gas.
"Wenn man durch das Stadtzentrum einer ukrainischen Stadt spaziert, kann man das 'Konzert der Generatoren' hören", erzählt Yuri lächelnd. Sie sind in der Nähe jedes Restaurants, jeder Apotheke, jeder Bank oder jedes Supermarkts installiert, und wenn sie alle gleichzeitig arbeiten, ist es eben laut, eine Art "Symphonie". Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass die Ukrainer sehr viele Möglichkeiten hatten - und haben - die EM im Fernsehen zu verfolgen.
Trotz gegen Diktatoren
Für Nicht-Ukrainer mag es seltsam aussehen, dass sich während der EM 2024 tatsächlich Menschen in Kneipen und Restaurants versammelten, um die ukrainische Nationalmannschaft zu sehen und zu unterstützen. Aber es zeigt auch, dass sie trotz der Bombenanschläge und Luftalarme immer noch versuchen, das Beste aus allem zu machen und ein möglichst normales Leben führen wollen.
Ein britischer Soldat, der für die ukrainische Armee im Einsatz ist, sagt: "Es erinnert mich an den Trotz des britischen Volkes während des Zweiten Weltkriegs. Die Ukrainer werden sich von keinem Diktator stürzen lassen." Dennoch gibt es immer wieder Rückschläge: Während des Spiels zwischen der Ukraine und Rumänien unterbrachen russische Hacker die Live-Übertragung und statt Fußball zu schauen, sah man in der zweiten Halbzeit nur einen schwarzen Bildschirm. "Zum Glück haben wir 0:3 verloren, das hat uns die Peinlichkeit erspart", kommentierten die Fußballfans das Geschehen ironisch. Das zweite Spiel gegen die Slowakei gewann die Ukraine mit 2:1. "Ich war den ganzen Abend glücklich, bis ich erfuhr, dass ein enger Freund von mir, ein Soldat, im Osten des Landes von Russen getötet wurde", erzählt ein Fußballfan.
Keine Zeit für Fußball
Auch Soldaten lieben Fußball, genau wie alle anderen Ukrainer, aber wenn sie im Dienst sind, haben sie wahrlich andere Probleme. Ein Soldat erzählt, dass es in den Schützengräben weder Zeit noch Platz für Fußball gibt: "Die meisten Menschen wissen ja nicht, wie es ist, im Schützengraben zu leben. Man muss immer wachsam sein. Aus einer Entfernung von 25 bis 30 Metern hört man mit Sprengstoff beladene Kamikaze-Drohnen und muss versuchen, zu überleben. Du kannst jederzeit angegriffen werden." Es gibt Drohnen, die von oben Granaten und Minen werfen, und manchmal ist das Geräusch einer fallenden Granate oder Mine zu hören.
"Dann hat man etwa drei Sekunden Zeit, sich zu retten", erzählt der Soldat mit dem Code-Namen "Maverick." In den Schützengräben gibt es weder Zeit noch Platz für Fußball. Und die Ukraine ist nach einem Unentschieden gegen Belgien leider aus der EM ausgeschieden, "aber diese Momente, in denen wir das Spiel, abseits vom Schützengraben, verfolgen und unsere Gedanken vom Krieg ablenken konnten, sind unbezahlbar", gibt er ntv.de noch mit auf den Weg.
Übersetzt von Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de