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Erste KyivPride seit Überfall LGBTQ-Militärs kämpfen an zwei Fronten

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Nach nur dreißig Metern und zehn Minuten war die KyivPride bereits beendet - Sicherheitsgründe, eine Konfrontation mit Gegendemonstranten sollte verhindert werden.

Nach nur dreißig Metern und zehn Minuten war die KyivPride bereits beendet - Sicherheitsgründe, eine Konfrontation mit Gegendemonstranten sollte verhindert werden.

(Foto: picture alliance/dpa)

Bei der ersten Pride in Kiew seit Beginn der Invasion stehen Soldaten und Soldatinnen aus der LGBTQ-Community an vorderster Front. Vom ukrainischen Staat fordern sie Gleichberechtigung, von der internationalen Gemeinschaft Waffen. Die Zeit drängt, denn sie fühlen sich doppelt bedroht.

Hauptfeldwebel Boris, Rufname "Pjatotschkin", steht in Uniform in der ersten Reihe der KyivPride. Zusammen mit anderen LGBTQ-Soldaten und -Soldatinnen hält der 37-Jährige das Leittransparent des Demonstrationszuges hoch. Darauf prangt in großen Lettern: "Arm Ukraine Now", bewaffnet die Ukraine jetzt. Rundherum die Forderungen: Luftabwehrsysteme, F-16, Himars, Patriots und Panzer.

Boris, im zivilen Leben Softwareentwickler, trat am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Überfalls, in die Armee ein und kämpfte in Bachmut. Er fordert nicht nur Waffen. "Ich bin hier, um für die Rechte von LGBTQ+ in der Ukraine einzustehen. Vor allem fordern wir die Gleichstellung der Ehe", sagt Boris.

Die Teilnehmer der Pride fordern Respekt für die LGBTQ-Community - und Waffen für die Ukraine.

Die Teilnehmer der Pride fordern Respekt für die LGBTQ-Community - und Waffen für die Ukraine.

(Foto: dpa)

Es ist die erste Pride in Kiew seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Trotz strömenden Regens und der frühen Stunde drängen immer mehr Menschen durch die Kontrollpunkte und Taschenkontrollen. Sie reihen sich in die Kolonne auf dem Bürgersteig und warten auf das Startsignal. Einige wechseln noch schnell ihre Kleidung, da die Organisatoren geraten hatten, auf dem Weg hierher keine auffälligen LGBTQ-Slogans zu tragen.

Strenge Sicherheitsmaßnahmen und hohe Geheimhaltung

"Dieses Jahr mussten wir bei der Bekanntgabe des Veranstaltungsortes strenger sein", sagt Mihajlo Jurow, einer der Organisatoren. Nur wer sich vorher angemeldet hatte und überprüft wurde, darf teilnehmen. Die finale Ankündigung kam erst um 7 Uhr morgens über Telegram: Die Startzeit wurde um eine halbe Stunde vorverlegt und der Treffpunkt an einer großen Kreuzung in der Nähe einer U-Bahn-Station im Stadtzentrum bekannt gegeben.

Die Vorsicht hat Gründe: Man will den Russen kein Ziel bieten. Außerdem soll verhindert werden, dass radikale Gegendemonstranten den Zug angreifen, von denen sich über hundert zur gleichen Zeit nur einen Kilometer entfernt auf dem Maidan versammeln.

Die Organisatoren hatten den Teilnehmern geraten, auf dem Weg zur Pride keine auffälligen LGBTQ-Slogans zu tragen.

Die Organisatoren hatten den Teilnehmern geraten, auf dem Weg zur Pride keine auffälligen LGBTQ-Slogans zu tragen.

(Foto: dpa)

Die Kreuzung ist komplett abgeriegelt, in der Mitte steht ein Militärjeep mit Drohnen-Jammer auf dem Dach, zwei Dutzend Polizeibusse blockieren die Seitenstraßen. "Die Verhandlungen mit der Polizei waren schwierig, aber letztendlich konnten wir eine Einigung erzielen, die es uns ermöglichte, den Marsch heute zu organisieren", sagt Anna Scharychina, Organisatorin und Vorsitzende von KyivPride.

"Homophobie ist ein Hassinstrument der Russen"

Für viele LGBTQ-Personen in der Ukraine drängt die Zeit - nicht trotz, sondern wegen des Krieges. "Viele können ihre Partner im Krankenhaus nicht besuchen oder von ihnen nicht besucht werden. Wenn jemand stirbt und man nicht verheiratet ist, kann man weder über die Beerdigung noch über die Art der Trauerfeier entscheiden", erklärt Mihajlo Jurow. "Manchmal weiß man nicht einmal, was passiert ist, weil man im Todesfall nicht der Ansprechpartner sein darf. Ganz zu schweigen davon, dass man nicht heiraten darf, wen man liebt." Hinzu kommen Probleme wie das Sorgerecht für Kinder sowie existenzielle Finanz- und Vermögensfragen.

Erst letzte Woche ist der bekannte queere Künstler und Musiker Artur Snitkus an der Front gefallen. Soldat Pavlo Kaliuk weiß ebenfalls um die Opfer und Herausforderungen der LGBTQ-Community. "Ich erinnere mich an zwei meiner Freunde, die gefallen sind. Es gibt viele LGBTQ-Personen in der Armee. Deshalb bin ich heute hier, um sie zu unterstützen", sagt der 36-Jährige, der normalerweise als Drohnenpilot nahe der Frontlinie im Einsatz ist. "Wir brauchen jeden Ukrainer. Wir dürfen niemanden ausgrenzen oder diskriminieren. Homophobie ist ein großes Hassinstrument der Russen."

Rechtlicher Schutz und internationale Unterstützung

Angesichts der Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der Lage steht der Gesetzentwurf 9103 über eingetragene Partnerschaften im Mittelpunkt der Forderungen der heutigen Demonstration. Dieser wurde letzten Sommer in der Werchowna Rada eingebracht, um die drängendsten Probleme der LGBTQ-Community anzugehen, steckt aber seitdem in der Entwurfsphase fest.

"Unsere Militärangehörigen riskieren jetzt gerade, in dieser Sekunde, ihr Leben und brauchen sowohl rechtlichen Schutz als auch Waffen, um unser Land zu verteidigen", sagt Viktor Pylypenko kurz bevor der Demonstrationszug losgeht. "Aber leider zögert die Regierung, die notwendigen Gesetze zu verabschieden, und die internationale Gemeinschaft zögert mit der Lieferung der Waffen und Flugabwehrsysteme, die wir brauchen, um den Himmel über der Ukraine zu sichern."

Auch Soldaten nahmen an der KyivPride teil.

Auch Soldaten nahmen an der KyivPride teil.

(Foto: dpa)

Der 37-Jährige war einer der ersten Kriegsveteranen, die sich 2018 öffentlich outeten. Von 2014 bis 2016 kämpfte er im Freiwilligenbataillon Donbas, seit 2022 in der 72. Brigade "Schwarze Saporoger Kosaken".

Langsam steigende Akzeptanz durch höhere Sichtbarkeit im Militär?

Trotz gesetzlicher Verzögerungen, radikaler Gegenproteste und weiterhin alltäglicher Diskriminierung und Gewalt sieht Pylypenko in den letzten zwei Jahren auch Fortschritte bei der Akzeptanz von LGBTQ. "Die Homophobie hat abgenommen, vor allem seit LGBTQ-Militärs sichtbarer geworden sind. Die Ukrainer haben großen Respekt vor ihren Verteidigern."

2021 gründete Pylypenko die Organisation "Ukrainisches LGBT-Militär für gleiche Rechte", der mittlerweile 500 Soldaten und Soldatinnen angehören. Doch das seien nur die, die sich öffentlich bekennen. Er schätzt, dass der Anteil der Homosexuellen in der ukrainischen Armee zwischen sieben und zehn Prozent liegt, wie überall anders auch. Die Organisation bietet unter anderem psychologische Unterstützung und Rechtsbeistand.

Dreißig Meter in zehn Minuten

Plötzlich wird es hektisch und die erste KyivPride seit Beginn der russischen Invasion setzt sich in Bewegung. Die mehr als dreihundert Teilnehmer sind bunt gemischt, von Studierenden bis Rentnern, auch einige Diplomaten. Sie trotzen dem strömenden Regen und trotten dicht an dicht wie in Zeitlupe über die Straße. An der Spitze ein Dutzend Soldaten aus der LGBTQ-Community.

Die Menge ruft: "Bewaffnet die Ukraine jetzt", "Liebe ist Leben, Hass ist Müll", "Russland ist ein Terrorstaat", "Sei du selbst, wir sind bei dir", "Lasst Russland zahlen".

Doch nach nur zehn Minuten ist Schluss. Auf der anderen Seite der Kreuzung, nur dreißig Meter vom Ausgangspunkt entfernt, befindet sich der nächste U-Bahn-Eingang. Polizei und Organisatoren fordern alle Teilnehmer auf, schnell in die abgesperrte U-Bahn zu steigen und nach Hause zu fahren, da sich eine Gruppe rechtsextremer Gegendemonstranten vom Maidan nähert. Sicherheit und Deeskalation haben oberste Priorität.

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Anna Scharychina, Leiterin von KyivPride, ist enttäuscht über die extrem kurze Dauer und Strecke. "Leider haben wir im Moment nicht viele Gründe zum Feiern. Ich wünschte, es gäbe mehr." Dennoch sei es wichtig gewesen, der ukrainischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, wie bedeutsam der Kampf für eine bessere Ukraine gerade während des russischen Angriffskrieges sei. Zudem sei die Wiederaufnahme des Dialogs mit der Stadtverwaltung positiv gewesen, und die Polizei habe ihre Arbeit ordnungsgemäß erledigt.

"Die Frage, wann die Pride in Kiew sicher sein wird, ist dieselbe wie die Frage, wann der Krieg endet. Niemand kann sie beantworten. Alles, was wir tun können, ist weiter zu kämpfen - gegen die Russen und gegen Homophobie, Biphobie und Transphobie."

Quelle: ntv.de

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