Mit Stillen war nicht alles gut Historikerin wehrt sich gegen Verteufelung von Babynahrung
31.05.2022, 18:03 Uhr
Verhungern war lange eine reale Gefahr für Babys und ist es in vielen Teilen der Welt bis heute.
(Foto: imago stock&people)
Die beste Ernährung für ein Baby ist das Stillen. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Industriell hergestellte Säuglingsnahrung ist trotzdem ein Fortschritt, meint eine US-Historikerin und nennt auf Twitter Gründe.
Seit Wochen erleben die USA eine Babynahrungskrise. Der Mangel an der industriell gefertigten Säuglingsnahrung hat die Stimmen lauter werden lassen, dass das Stillen mit Muttermilch diese Produkte überflüssig machen würde. Oft wird bei dieser Argumentation auf die Zeit vor der Erfindung der Fertignahrung verwiesen, in der Muttermilch ja auch "ausgereicht habe". Die Diskussion rief nun die US-Historikerin Carla Cevasco auf den Plan, die auf Twitter einige Anmerkungen dazu postete.
Cevasco, die Professorin für Amerikanistik an der Rutgers University-New Brunswick ist, beginnt ihren Thread damit, dass es die Annahme gibt, vor dem Aufkommen der modernen kommerziellen Säuglingsnahrung hätten alle Babys Muttermilch zu sich genommen und alles sei bestens gewesen. "Als Historikerin auf dem Gebiet der Säuglingsernährung möchte ich Ihnen sagen, warum das nicht stimmt", schreibt sie.
Grundsätzlich sei es immer so gewesen, dass es Umstände gegeben habe, in denen Babys etwas anderes als Muttermilch zu sich nehmen mussten. Die Historikerin nennt mehrere mögliche Gründe: den Tod oder eine Erkrankung der Mutter, die Notwendigkeit, bereits kurze Zeit nach der Geburt für Erwerbsarbeit wieder das Haus zu verlassen oder auch beispielsweise das Eingreifen von Sklavenhaltern, die das Stillen unterbanden, um eine schnellere weitere Schwangerschaft von Sklavinnen zu ermöglichen. Es gebe auch körperliche Umstände, die eine Fütterung mit Muttermilch erschweren oder unmöglich machen. Babys können schlechte Trinker sein oder als Frühgeborene zu schwach, um an der Brust zu trinken. Auch bestimmte Behinderungen stehen dem Stillen im Wege. Adoptiv- oder Pflegeeltern sei es zudem aus naheliegenden Gründen verwehrt.
Suche nach Ersatz
Als Alternative habe es vor allem für reichere Menschen die Möglichkeit gegeben, dass eine andere Frau das Stillen übernimmt. Diese Ammen seien aber auch Mütter gewesen, deren eigene Kinder dann in vielen Fällen nicht mehr ausreichend mit Muttermilch ernährt werden konnten. "Die Fütterung des Babys mit fremder Muttermilch war angesichts der Machtdynamik von Ethnie, Klasse und Geschlecht in der Vergangenheit also auch nicht unbedingt eine ideale Situation", so Cevasco.
Deshalb habe es schon immer Bemühungen gegeben, Babys mit etwas anderem als Muttermilch zu ernähren. Die Wabanaki, amerikanische Ureinwohner, fütterten demnach im 18. Jahrhundert ihre Säuglinge in diesen Fällen mit einer Mischung aus gekochten Walnüssen, Maismehl und Wasser. Auch im frühneuzeitlichen Europa aßen Babys oft Brei oder Panada, Mischungen aus Tiermilch oder Wasser, Brotkrumen oder Mehl. "Manchmal wurden sie gekocht, manchmal nicht."
Aber diese Zubereitungen waren oft mit schädlichen Keimen belastet und enthielten zudem nicht genug Nähstoffe für die Säuglinge. Von Muttermilch ist bekannt, dass sich die Zusammensetzung und Nährstoffdichte immer wieder verändert und an die jeweiligen Bedürfnisse des Babys anpasst.
Bevor die moderne Säuglingsnahrung erfunden wurde, habe es deshalb vor allem eine Realität gegeben. "Als es noch keine moderne Säuglingsnahrung gab, starben viele Säuglinge an Krankheiten oder Hunger, weil es keine sichere oder angemessene Nahrung gab", schreibt Cevasco. Diese Babys hätten mit dem Zugang zu sicherer, nährstoffreicher Milchnahrung überlebt.
Stillen nicht schlecht machen
Cevasco betont, dass sie kein Fan der Babynahrungshersteller sei und bessere Stillbedingungen für Frauen für notwendig hält. Dazu zählt sie unter anderem bezahlten Elternurlaub, den es in den USA nicht gibt, kostenlose Stillberater und Stillkurse, Zugang zu Räumen, wo Mütter Milch abpumpen können und das Recht, in der Öffentlichkeit zu stillen.
In Deutschland stillen etwa 68 Prozent der Mütter ihr Kind nach der Geburt ausschließlich. In den folgenden Monaten sinkt die Zahl dem Landwirtschaftsministerium zufolge deutlich. Nach zwei Monaten stillten noch etwas mehr als die Hälfte (57 Prozent) und nach 4 Monaten (der empfohlenen Mindeststilldauer für ausschließliches Stillen) nur noch 40 Prozent.
Im Februar stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einer Studie fest, dass die Babynahrungshersteller in ihrer Werbung unwahre Behauptungen verbreiten, um Frauen vom Stillen abzubringen und zum Kauf von industriell hergestellter Säuglingsnahrung zu animieren. Damals sagte Nigel Rollins, der bei der WHO zuständig für Mutter-Kind-Gesundheit ist, es gehe der Organisation nicht darum, Babynahrung aus den Verkaufsregalen zu verbannen. Manche Säuglinge brauchten diese Nahrung. In der Studie gehe es nur um Vermarktungsmethoden, die Mütter, die eigentlich stillen wollten und könnten, manipulierten.
Quelle: ntv.de, sba