Panorama

Virologin Ciesek zur Corona-Lage Hospitalisierungsrate ist "Blick in den Rückspiegel"

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"Wir können die Zahlen nicht mehr ändern - das Kind ist in den Brunnen gefallen", sagt Virologin Sandra Ciesek. Jetzt zähle der Blick nach vorn.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Infektionszahlen steigen in Deutschland rasant an. Entscheidend für schärfere Maßnahmen ist allerdings die umstrittene Hospitalisierungsrate. Warum diese aber die aktuelle Corona-Lage verzerrt, erklärt Virologin Ciesek im ndr-Podcast. Bei Erreichen von Schwellenwerten sei es bereits zu spät zum Gegensteuern.

Die vierte Corona-Welle hat Deutschland weiter fest im Griff. Fast täglich erreicht die Zahl der Neuinfektionen neue Höchststände. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz liegt aktuellen Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) zufolge nur noch hauchdünn unter 400. Ausschlaggebend für strengere Maßnahmen ist allerdings die Hospitalisierungsrate. Sie ist derzeit der wichtigste Parameter für die Beurteilung des Infektionsgeschehens. Das sei aber "ein Blick in den Rückspiegel und nicht nach vorn", kritisiert Virologin Sandra Ciesek im NDR-Podcast "Coronavirus-Update".

Die Hospitalisierungsrate gibt an, wie viele Covid-19-Patienten pro 100.000 Einwohnern binnen einer Woche ins Krankenhaus eingewiesen werden. Bei Überschreitung der Grenzwerte 3, 6 und 9 können die Bundesländer jeweils schärfere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verhängen. Bundesweit liegt der Wert derzeit bei 5,28. "Es gibt aber große regionale Unterschiede, die dort gar nicht abgedeckt werden", sagt Ciesek. So liege der Wert in Hamburg bei rund 2 - also ein sehr guter Wert. Thüringen weise hingegen eine Hospitalisierungsrate von 17,59 auf. "Das ist höher als der Spitzenwert, den wir mit rund 15,5 zu Weihnachten 2020 hatten."

Neben den großen regionalen Unterschieden entstehe auch durch den Meldeverzug eine Verzerrung der tatsächlichen Lage in den Krankenhäusern, mahnt die Direktorin der Medizinischen Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. "In Sachsen lag die Hospitalisierungsrate in der vergangenen Woche bei 4,39." Viele Kliniken haben im Freistaat jedoch ihre Kapazitätsgrenzen bereits erreicht. Der niedrige Wert passe somit nicht zu den Geschehnissen dort, so Ciesek. Das liege daran, dass für die Hospitalisierungsrate das Meldedatum der Infektion eines Patienten entscheidend ist, nicht der Tag der Krankenhauseinweisung. Zudem würden viele Patienten nicht schon binnen einer Woche in Kliniken aufgenommen, sondern meist deutlich später.

Daher sei es bereits zu spät zum Gegensteuern, wenn die Hospitalisierungsrate bestimmte Schwellenwerte erreicht, mahnt Ciesek. Ein besseres Bild der aktuellen Corona-Lage gebe die Korrelation zwischen der Zahl der Neuinfektionen und der Belegung der Intensivbetten ab. "Man geht davon aus, dass 0,8 Prozent der Neuinfektionen auf Intensivstationen behandelt werden müssen", sagt die Virologin. Das bedeutet: Umso höher die Fallzahlen, umso prekärer wird die Situation in Kliniken.

2G bietet keine Sicherheit

Doch jetzt "können wir die Zahlen nicht mehr ändern - das Kind ist in den Brunnen gefallen", sagt Ciesek angesichts der dramatischen Infektions-Lage in Deutschland. "Wir müssen nach vorn schauen und Konsequenzen ziehen, jeder auch in seinem persönlichen Umfeld, nicht nur in der Politik." Jede Maßnahme, die es dem Virus schwerer mache, Leute zu infizieren, sei zunächst sinnvoll, sagt die Virologen. Gleichzeitig weist sie auf die Risiken der 2G- oder 2G-plus-Regelungen hin.

2G bedeute nicht, dass man sich nicht anstecken könne, warnt Ciesek. "Natürlich steigt die Gefahr, umso häufiger man Veranstaltungen mit 2G besucht, dass man das Virus dann mit nach Hause zur Großmutter oder zur schwangeren Freundin nimmt." Eine Plus-Variante - also in Kombination mit einem tagesaktuellen Schnelltest - sei da schon etwas sicherer. Allerdings biete auch ein zusätzlicher Antigentest keine hundertprozentige Sicherheit, betont Ciesek, da "ungefähr die Hälfte der Infektionen übersehen wird". Ein tagesaktueller PCR-Test wäre ideal, aber das sei kaum umsetzbar bei den meisten Veranstaltungen.

Die Virologin rät daher allen, die Kontakte zu reduzieren. Zudem sollte man sich genau überlegen, auf welche Veranstaltungen man verzichten kann. "Ich halte Großveranstaltungen für nicht sinnvoll", sagt Ciesek. Hundert Menschen in einem geschlossenen Raum sei in der Pandemie immer ein Risiko. Ob es einen bundesweiten Lockdown geben sollte, dazu will sich die Virologin nicht äußern. "Das müssen andere entscheiden."

"Keinen Grund, Moderna nicht zu nehmen."

"Wichtig ist, dass man sich boostern lässt", sagt Ciesek weiter. Mittlerweile gehe man davon aus, dass man ab 18 Jahren eine dritte Impfung braucht, um überhaupt ein vollständiges Impfschema zu haben. "Und ich kann nur raten, das zu nehmen, was da ist. Ob Biontech oder Moderna ist bei Leuten über 30 relativ egal." Laut Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) wird Schwangeren und allen Menschen unter 30 in Deutschland Moderna ohnehin nicht angeboten, um das Risiko von Herzmuskelentzündungen zu senken. "Aber bei über 30-Jährigen besteht das erhöhte Risiko nicht. Da gibt es überhaupt keinen Grund, Moderna nicht zu nehmen."

Ob eine Booster-Impfung nach fünf oder sechs Monaten erfolgt, ist aus Cieseks Sicht weniger entscheidend. Ob eine Auffrischung schon nach drei Monaten sinnvoll sein könnte, müsste erst noch geklärt werden. "Man bräuchte dafür eine Vergleichsstudie nach drei Monaten und nach sechs Monaten. Aber dafür gibt es noch keine Daten."

Vor einer Booster-Impfung die Zahl der Antikörper bestimmen zu lassen, hält die Virologin für unnötig. Bislang gebe es keinen eindeutigen Grenzwert für einen sicheren Immunschutz. Sie habe Menschen mit extrem hohen Antikörpertitern gesehen, die sich trotzdem infiziert hätten. "Antikörper sind nur ein ganz kleiner Teil der Immunantwort", sagt Ciesek. "Wir können im Labor nicht bescheinigen: Du wirst dich auf gar keinen Fall anstecken."

Quelle: ntv.de, hny

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