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Noch Rettungschancen nach Beben? "Kälte hilft Verschütteten beim Überleben"

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Die niedrigen Temperaturen in Gaziantep erhöhen die Überlebenschancen der Verschütteten. Für jene, die ihr Zuhause verloren haben, werden sie jedoch zur großen Herausforderung.

Die niedrigen Temperaturen in Gaziantep erhöhen die Überlebenschancen der Verschütteten. Für jene, die ihr Zuhause verloren haben, werden sie jedoch zur großen Herausforderung.

(Foto: picture alliance / AA)

Mit jeder Stunde nimmt die Chance, nach dem Erdbeben noch Überlebende unter den Trümmern zu finden, ab. Mittlerweile ist die kritische Überlebensgrenze von 72 Stunden überschritten. Die Freiwilligen des Technischen Hilfswerks aus Deutschland suchen trotzdem weiter nach Leben. Dabei kommen ihnen die Eisestemperaturen in der Türkei sogar entgegen, sagt Martin Zeidler, Leiter der Referatsgruppe Einsatz beim Technischen Hilfswerk im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Die Freiwilligen des Technischen Hilfswerks sind am Mittwoch in der betroffenen Region Gaziantep im Südosten der Türkei angekommen. Was für eine Lage haben sie dort vorgefunden?

Martin Zeidler: Die Lage vor Ort ist nach wie vor unübersichtlich. Wie groß der gesamte Schaden tatsächlich ist, wissen wir noch immer nicht. Das Team hat daher mit Erkundungen angefangen und ist nun immer noch dabei, Menschen zu finden und aus den Trümmern zu bekommen.

Martin Zeidler ist Leiter der Referatsgruppe Einsatz beim Technischen Hilfswerk.

Martin Zeidler ist Leiter der Referatsgruppe Einsatz beim Technischen Hilfswerk.

(Foto: Foto: Privat)

Die kritische Überlebensgrenze von 72 Stunden nach dem Beben ist mittlerweile überschritten. Gibt es noch Chancen, Überlebende zu finden?

Ja, die gibt es noch. Teilweise bekommt man Menschen noch fünf, sechs, sieben Tage nach Erdbeben aus den Trümmern. Das kommt ganz auf die Umstände an: In der Türkei stehen viele Betonbauten - wenn die einstürzen, entstehen im Gegensatz zu Lehmbauten oft Hohlräume, in denen Menschen überleben können. Außerdem besteht die Chance, dass einige an Wasser, das vielleicht irgendwo runtertropft, gekommen sind. So lassen sich die 72 Stunden, in denen ein Mensch ohne Trinken auskommt, verlängern.

Allerdings herrschen in der Türkei Minusgrade und die Verschütteten haben keine Chance, sich vor der Kälte zu schützen.

Die niedrigen Temperaturen sind Fluch und Segen zugleich. Natürlich darf es nicht zu kalt sein, weil es sonst zu Erfrierungen kommt. Allerdings hilft die Kälte den Verschütteten auch beim Überleben, denn durch sie verlangsamt sich der Stoffwechsel. Die Menschen verbrauchen also weniger Energie und können länger ohne Nahrung auskommen.

Was ist die größte Herausforderung für Ihr Team in Gaziantep?

Das Ausmaß der Zerstörung. Wir sprechen über ein riesiges Schadensgebiet. In Deutschland würde es sich komplett über Mitteldeutschland, vom Ruhrgebiet bis runter nach Nürnberg, hinziehen. Hinzu kommt die Lage: Das türkisch-syrische Grenzgebiet ist nicht die sicherste Ecke der Welt. Vor allem auf der syrischen Seite stehen wir vor dem Problem, die Hilfe zu den betroffenen Personen zu bekommen. Zudem hatten wir auch gestern noch Nachbeben. Unsere Leute sind unverletzt geblieben, aber das kann sich schnell ändern.

Vor Ort sind Dutzende Rettungsteams aus der ganzen Welt. Wie muss man sich die Zusammenarbeit vorstellen?

Vor Ort ist immer der Staat oder die lokale Zivilschutzorganisation für die Koordination verantwortlich. Zudem gibt es internationale Standards, sodass alle Teams gleich aufgestellt sind. Ein Beispiel: Wenn ein Land Hilfe anfragt, gibt es verschiedene Bergungs-Hilfspakete - "Heavy", "Medium" oder "Small". Jedes Rescue-Team, egal ob aus Schweden, Deutschland oder Rumänien, weiß damit genau, was es für Personen und Gerätschaften mitbringen muss. Es gibt auch internationale Trainings. Diese Mechanismen werden seit Jahren weiterentwickelt. Ein Schlüsselerlebnis war das Erdbeben 1988 in Armenien, als es diese Standards noch nicht gab und die Teams aus verschiedenen Ländern unterschiedlich gearbeitet haben. Eine Koordination ist dann schwierig.

Einen Tag nach dem Erdbeben haben Menschen Supermärkte geplündert, weil die Lebensmittelversorgung vor Ort zusammengebrochen ist. Hat sich das mittlerweile verbessert?

Von einer Infrastruktur zu sprechen, wäre weit gefehlt. Plünderungs-Szenarien sind mir aber länger nicht mehr zu Ohren gekommen. Ich gehe davon aus, dass es eine rudimentäre Grundversorgung gibt. Allerdings rechnen wir auch damit, dass noch eine Anforderung an unser Team von der SEEWA zur Trinkwasserversorgung kommt, weil die Wasserversorgung auch zerstört wurde.

Was sind die größten Herausforderungen für die Überlebenden?

Erst einmal das Überleben. Dazu kommen mit Sicherheit die psychischen Folgen. Ich würde mal behaupten, dass jeder Mensch, der hier wohnt, mindestens einen Familienangehörigen verloren hat. Es wird also eine große Aufgabe, die Betreuung für all die Menschen zu organisieren. Und natürlich kommt das Praktische dazu: Den Menschen ist kalt - sie brauchen Essen, Kleidung, Decken, Schlafsäcke, Feldbetten und Zelte.

Wie lange werden Ihre Leute noch in der Türkei bleiben?

Das kommt darauf an, was die Menschen noch brauchen und was die Türkei von uns anfragt. Im Moment ist unser Bergungsteam vor Ort. Nach ungefähr 14 Tagen wird die Wahrscheinlichkeit allerdings gen Null gehen, dass wir noch Überlebende finden können. Noch länger wird uns der Hilfsgütereinsatz beschäftigen: Wir haben Material in unseren Logistikzentren zusammengestellt - gestern ist die erste Bundeswehrmaschine mit den angeforderten Hilfsgütern in der Türkei gelandet, da werden noch drei, vier, fünf, sechs folgen. Wenn wir noch für die Trinkwasseraufbereitung angefragt werden, würde der Einsatz drei bis sechs Monate dauern. Noch länger wären wir vor Ort, wenn wir beim Wiederaufbau helfen.

Bisher gibt es noch keine internationalen Rettungsteams in Syrien, obwohl das Beben den Norden des Landes hart getroffen hat. Gibt es Pläne, Ihren Einsatz auch dorthin zu verlagern?

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Keiner sollte Hilfe unaufgefordert in Länder schicken. Ich sage das bewusst, weil es immer noch Menschen gibt, die das tun. Der erste Schritt muss immer ein internationales Hilfegesuch des betroffenen Landes sein. Die türkische Seite hat dies relativ früh getan und nun gibt es auch eine Anfrage aus Syrien. In Krisenregion gibt es allerdings weitere Hürden, denn es muss sichergestellt werden, dass die Hilfe auch bei den Menschen vor Ort ankommt. Deswegen halten wir uns immer gerne an lokal etablierte oder internationale Institutionen, die es vor Ort bereits gibt. Bei dem Erdbeben in Haiti 2010 haben wir uns zum Beispiel an die Caritas und UN-Organisationen vor Ort gehalten. Eine solche Zusammenarbeit prüfen wir für die Hilfe in Syrien im Moment.

Mit Martin Zeidler sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

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