Timo Ulrichs im ntv-Interview "Letztendlich werden sich alle Ungeimpften infizieren"
08.11.2021, 12:56 Uhr
Die 2G-Regelung schützt auch die bereits Geimpften und Genesenen, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs.
(Foto: ntv)
Die Infektionszahlen erreichen täglich neue Rekorde - eine vermeidbare vierte Welle, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs im Interview mit ntv. Die 2G-Regelung hält er für das richtige Mittel, um die Virusverbreitung einzudämmen, bis genügend geimpft sind. An Schulen sei außerdem eine Maskenpflicht nötig.
ntv: Die Zahl der Neuinfektionen und die Zahl der Hospitalisierungen steigt im Moment rasant an. Gleichzeitig sind mehr als zwei Drittel der Menschen in Deutschland durchgeimpft. Was sagt uns die aktuelle Inzidenz von über 200?
Timo Ulrichs: Dass wir mitten in der vierten Welle sind, ganz klar. Wenn man sich die Zahlen genauer ansieht, sind es vor allem die Ungeimpften, also vor allem die Jüngeren, die dazu beitragen, dass die Zahlen gerade so steil nach oben gehen. Das bedeutet, dass wir aktuell einen Vormarsch des Virus bei den Ungeimpften sehen. Parallel gibt es aber eben auch noch eine andere Entwicklung: Bei den ganz Alten sehen wir vermehrt Impfdurchbrüche. Die sind dann auch in den Positivmeldungen enthalten. Dagegen könnte man aber etwas tun, nämlich indem man die dritte Impfung entsprechend propagiert.
Die Inzidenz von 200 ist ein absoluter Höchstwert im Moment. Was sagt das über die Geschwindigkeit der Infektionen aus?
Wenn man das mit der Situation vor einem Jahr vergleicht, haben wir jetzt sehr viele Menschen, die sich früher und schneller anstecken als noch vor einem Jahr. Was wir aber heute weniger haben, sind Krankenhauseinweisungen, schwere Verläufe und Todesfälle. Weil wir eben doch bereits einige Menschen geimpft und damit das Risiko abgesenkt haben. Außerdem gibt es noch einen weiteren Unterschied: Damals haben wir die Lockdownmaßnahmen, wenn auch verspätet, immerhin für alle eingeführt - weil wir noch keine anderen Maßnahmen hatten, um die Zeit bis zu einem Impfstoff zu überbrücken. Dieses Jahr sieht es anders aus. Wir haben einen Impfstoff und es gibt die Möglichkeit, die Corona-Pandemie zu beenden. Deswegen ist diese vierte Welle ziemlich überflüssig und auch sehr ärgerlich.
Noch gravierender ist die Situation momentan bei den Kindern und Jugendlichen, da sind die Inzidenzen noch höher. Lehrerverbände befürchten jetzt sogar einen absoluten Kontrollverlust an den Schulen. Was müssen wir tun, um dem entgegenzuwirken?
Als erste Maßnahme müssen sich alle Erwachsenen impfen lassen und die 12- bis 17-Jährigen gleich mit. Das läuft ja gerade, aber es gibt eben viele, die man mit diesen Aufrufen und dieser Argumentation nicht so richtig erreichen kann. Deswegen wäre es das Nächstbeste, zu versuchen, in den Schulen und Kitas mit Hygienekonzepten den Betrieb aufrechtzuerhalten. Aber wenn der Infektionsdruck weiter steigt, dann wird das immer schwieriger. Dann wäre es natürlich sinnvoll, dass wir möglichst schnell die Zulassung und Empfehlung bekommen, auch die Kleinen impfen zu können. In den USA wird das bereits gemacht. Es gibt angesichts der vierten Welle auch eigentlich kein Argument mehr dagegen. Auch bei der Diskussion um die Zulassung und Empfehlung der Impfung für die 12- bis 17-Jährigen war immer die Frage: Hat man individuell etwas von der Impfung und gibt es zusätzlich noch einen Nutzen für die Allgemeinheit? Das können wir heute beides bejahen, auch für die Kleinen.
Gehört für Sie zu Hygienekonzepten an Schulen auch eine allgemeine Maskenpflicht?
Ja, auf jeden Fall! Die Maskenpflicht muss leider wieder eingeführt werden, auch wo sie bereits schon wieder aufgehoben wurde. In den Klassenräumen, um den Einbruch des Virus in einzelne Gruppen möglichst zu reduzieren. Wenn dann doch einige Schüler positiv getestet werden, hat man so wenigstens die Chance, dass die anderen einigermaßen sicher sind.
In Österreich gilt seit heute 2G. Ungeimpfte können im Grunde am öffentlichen Leben nicht mehr richtig teilnehmen. In Deutschland gibt es auch einige Bundesländer, die jetzt vorpreschen. Kommen wir angesichts der Lage an der flächendeckenden Einführung von 2G nicht vorbei?
2G ist das richtige Mittel der Wahl - zusätzlich zu der Durchimpfungskampagne. Damit erreichen wir, dass wir die Kontakte bei den Ungeimpften einigermaßen reduzieren und die Virusausbreitung in diesem Bereich hemmen. Das ist zusätzlich auch ein Schutz, damit das Virus nicht in die Gruppe der Geimpften und Genesenen übertragen wird. Denn die haben auch noch ein Restrisiko, infiziert zu werden. Das heißt, wenn die Geimpften und Genesenen unter sich sind, dann ist das relativ sicher - aber nicht ganz sicher. Deswegen sollte man bei 2G-Regelungen in besonders sensiblen Bereichen 2G plus einführen. Bei dem Besuch von Alten- und Pflegeheimen zum Beispiel würde man sich dann zusätzlich nochmal testen. Ansonsten steckt hinter der 2G-Regelung die Idee, dass man gut durch Herbst und Winter kommt und sich nicht alle Ungeimpften auf einmal infizieren. Dadurch würde ansonsten das Risiko erhöht, dass unser Gesundheitswesen an die Belastungsgrenze kommt. Letztendlich werden sich alle Ungeimpften infizieren, das sollte aber einigermaßen gestreckt werden. Daher sind solche Maßnahmen wie die 2G-Regelung sehr sinnvoll.
Ein Drittel der Bevölkerung ist nicht geimpft. Hat es noch einen Effekt, wenn sich diese Menschen jetzt impfen lassen?
Auf jeden Fall! Das Zeitfenster ist noch offen, man kann sich immer noch impfen lassen. Das ist auch überhaupt kein Gesichtsverlust, ganz im Gegenteil. Es ist immer noch sehr sinnvoll, jetzt noch dazu beizutragen, dass wir alle zusammen diese Pandemie überwinden und andere schützen, die sich nicht impfen lassen können. Sich jetzt noch impfen zu lassen, kann dazu beitragen, dass wir alle gut durch Herbst und Winter kommen.
Mit Timo Ulrichs sprach Katrin Neumann
Quelle: ntv.de