Auszeit vom Kriegshorror Mädchen tanzen Ballett in Bunker unter Charkiw
30.03.2024, 14:17 Uhr Artikel anhören
Im "Princess Ballet Studio" können die Mädchen auch während eines Fliegeralarms weitertanzen.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Es ist ein trister Raum und gleichzeitig ein Luftschutzkeller mitten im zerstörten Charkiw, in dem eine Ukrainerin ihr Ballettstudio eröffnet hat. Den Schülerinnen bietet der Tanzunterricht eine kurze Auszeit von den Schrecken des Krieges.
Wie ein Luftzug schweben die kleinen Mädchen in ihren rosafarbenen Tutus in das Tanzstudio. Zu klassischer Musik zeigen die Neunjährigen ihre Sprünge und Gleitschritte. Wenn sie einmal aus der Rolle fallen, gibt es einen Rüffel von Lehrerin Marina Altuchowa. Das "Princess Ballet Studio" ist ein spartanischer, fensterloser Raum unter einem Wohnkomplex und dient auch als Luftschutzkeller. Doch für eine Stunde bietet der Unterricht den Kindern Leichtigkeit und ein Entkommen vom täglichen Kriegsgrauen im nordostukrainischen Charkiw.
In der Stadt ist der russische Krieg gegen die Ukraine allgegenwärtig: Gebäude liegen in Trümmern, ständig heulen Sirenen. Die Region Charkiw durchschneidet die schlangenförmige, 1000 Kilometer lange Front, an der sich ukrainische und russische Truppen seit mehr als zwei Jahren erbittert bekämpfen.
Für die Ballettschülerinnen bedeutet der Unterricht in einem Luftschutzbunker, dass sie auch während des fast stündlichen Fliegeralarms weitertanzen können. Inhaberin Julia Woitina hat alles dafür getan, um den Ort freundlicher zu gestalten: An einem Türknauf baumeln pinkfarbene Ballettschläppchen, für wartende Eltern steht ein gemütlicher Sitzsack bereit.
"Plié", fordert Altuchowa ihre Schülerinnen auf, und die Mädchen beugen ihre Knie, beobachten sich dabei im großen Spiegel, um die Position zu perfektionieren. Zum Takt der lauter werdenden Musik ruft die Lehrerin die Neunjährigen auf, sich auf ihre Fußballen zu stellen und die Arme zu heben. Manche verlieren das Gleichgewicht. "Sehr gut", lobt Altuchowa dennoch.
Ballett "eine Art Rettung"
Woitina betrieb vor dem Krieg mehrere Ballettschulen, die sie jedoch vor ihrer Flucht in den Westen der Ukraine schloss. Als sie im März 2023 nach Hause zurückkam, stellte sie fest, dass sie weder das Geld noch die Schülerinnen hatte, um die Studios wiederzueröffnen. Doch sie beschloss, eines davon - fast ohne Gewinn - weiterzubetreiben. Vor Kriegsbeginn hatte sie 300 Schülerinnen, heute sind es noch 20.
Sie habe sich zu dem Schritt verpflichtet gefühlt, sagt Woitina. "Es gibt nichts für Kinder in Charkiw, keine Schulen oder Kindergärten, die Kinder sind die ganze Zeit online", erklärt sie. "Sie müssen ihre Energie für etwas einsetzen, das ihnen ein gutes Gefühl gibt. Insbesondere Ballett ist auf diese Weise eine Art Rettung für sie."
In der gesamten Region versuchen die Menschen so gut wie möglich ihr Leben wiederaufzubauen. Im nahegelegenen Isjum, das nach Monaten russischer Besatzung ein Bild der Verwüstung bietet, widmet sich Hanna Tertyschna mit Hingabe ihrem Garten. Die Front ist nicht weit, aber nachdem sie einmal vor den Russen geflohen war, wollte Tertyschna ihre Heimat nicht noch einmal verlassen. "Es ist alles unvorhersehbar", sagt sie. "Aber es ist gut, zu Hause zu sein, die Vögel zwitschern, und die Kinder spielen."
Ganz in der Nähe blickt Ewgeni Nepotschatow auf die Trümmer des Hauses, in dem er einst mit seiner Familie lebte. Mehr als die Worte "Es ist so traurig" kommt ihm nicht über die Lippen. Der 80-jährige Juri Sewastjanow kommt mit dem Fahrrad vorbei, um aus dem Schutt von Nepotschatows Haus Feuerholz zu klauben. "Es ist für uns der einzige Weg, um zu überleben", sagt er finster und saust davon.
"Oh mein Gott, Mama, das ist ein Keller!"
Zurück im Ballettunterricht hat Altuchowa eine komplizierte Übung für die Mädchen parat: eine Pirouette auf einem Fuß. Die neunjährige Myroslawa Ponomarenko widmet sich der Aufgabe mit voller Konzentration. Ihre Mutter Hanna Ponomarenko schaut ihr von der Tür zu dem kleinen Wartebereich aus stolz zu. "Das ist ihre Lieblingsbeschäftigung, sie nimmt Unterricht, seit sie drei Jahre alt war", sagt die 32-Jährige. Ihr Mann arbeitet für den staatlichen Rettungsdienst und ist nur selten zu Hause. Er wird häufig gerufen, um nach russischen Luftangriffen Zivilisten zu retten, Trümmer wegzuräumen und den Schaden zu schätzen.
Wie Woitina ist auch Ponomarenko in einem früheren Stadium des Kriegs aus der Stadt geflohen und im vergangenen Jahr zurückgekehrt. Sie gehörte zu den ersten, die ihre Tochter für einen Ballettkurs anmeldete, sobald das Studio wieder offen war.
Myroslawa war zunächst wenig begeistert. "Als meine Tochter zum ersten Mal hierherkam, sagte sie: 'Oh mein Gott, Mama, das ist ein Keller, es gibt keine Fenster'", erzählt die Mutter. Das Mädchen war das beste Ballettkonservatorium von Charkiw gewohnt, in dem während des Unterrichts Konzertpianisten live spielten und wo sie professionellen Tänzerinnen beim Üben zusehen konnte.
Doch Myroslawa hat sich mit der neuen Realität abgefunden. Sie sagte zu ihrer Mutter: "Na ja, es ist, wie es ist, lassen wir es gut sein", wie sich Ponomarenko erinnert. "Ich bin mit allem einverstanden."
Quelle: ntv.de, kse/AP