Timo Ulrichs im Interview "Maxime sollte sein, Schulen offen zu halten"
19.03.2021, 16:12 Uhr
Timo Ulrichs plädiert dafür, die Öffnung der Schulen und Kitas zu gewährleisten.
(Foto: dpa)
Deutschland bewegt sich auf eine Inzidenz von mehr als 100 zu. Epidemiologe Ulrichs fordert deshalb Konsequenzen. "Wir sollten die Füße stillhalten, um die Öffnung der Schulen und Kitas zu gewährleisten", sagt er bei ntv. Kein Verständnis hat er für Mallorca-Reisen und die Bedingungen für die Fußball-EM.
ntv: Professor Ulrichs, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder befürchtet, dass aus einer dritten Welle eine "Dauer-Welle" werden könnte. Wie kommen wir da raus?

Prof. Dr. Dr. Timo Ulrichs ist Professor für Medizin, Mikrobiologie und Katastrophenhilfe an der Akkon-Hochschule in Berlin.
Timo Ulrichs: Wir könnten natürlich warten bis morgen oder bis die Inzidenz-Schwelle von 100 tatsächlich überschritten wird. Wir könnten aber auch heute schon sagen: Wir ziehen die Konsequenzen, die vereinbart wurden, und fahren wieder herunter. Dann gehen wir das letzte Mal in den Lockdown, denn diese dritte Welle muss noch überbrückt und möglichst flach gehalten werden, und danach kommen wir langsam in die Durchimpfungsphase. Und dann ist dieser Spuk hoffentlich vorbei. Das heißt aber auch, dass wir, wenn wir die Welle klein halten wollen, jetzt mit den Maßnahmen beginnen sollten und nicht erst, nachdem sich alle wieder zurechtgeruckelt haben und dieselben Fehler gemacht wurden wie im November und Dezember. Das wäre schade!
Und beim Impfen?
In Sachen Impfen warten wir sehnlichst darauf, dass die versprochenen Impfstoffdosen geliefert werden. Millionen von Dosen, die uns langsam in die Lage versetzen, zu impfen wie das zum Beispiel in Chile passiert und in Israel schon passiert ist. Das heißt: So viele Menschen impfen, wie in den Impfzentren und bei den Hausärzten behandelt werden können. Das wäre das Ziel und es ist realistisch, dass das demnächst auch passiert. Das heißt aber nicht, dass wir mit dem Impfen sofort die mögliche dritte Pandemiewelle bekämpfen können. Das wird erst zeitversetzt passieren. Epidemiologisch wirksam wird es erst, wenn wir in die Breite gehen und alle Altersgruppen erfassen.
Müssen wir in Sachen zweiter Impfung unsere Strategie nochmal überdenken?
Es ist ja schon so, dass beim Astrazeneca-Impfstoff die zwölf Wochen Abstand eingehalten werden, sodass der optimale Zeitpunkt erwischt wird, um das Immunsystem endlich mal so richtig zu boostern. Wir haben Daten vorliegen, wonach besonders beim Astrazeneca-Impfstoff schon mit der ersten Impfung ein Schutz vor schweren Erkrankungen da ist, gerade auch bei älteren Menschen. Trotzdem sollten wir aber alle Impfungen tatsächlich vollständig machen und dazu werden wir auch bald in der Lage sein, wenn wir ausreichend Dosen zur Verfügung haben.
Trotz aller Hygienemaßnahmen und anderen Regeln stecken sich immer mehr Kinder in Kitas und Schulen an und in der Folge auch ihre Eltern und Familien. Ist es nach wie vor eine gute Idee, Schulen und Kitas offen zu halten?
Ja. Es wurde immer wieder gesagt - und das ist auch richtig und nachvollziehbar -, dass die Schulen zuallererst wieder geöffnet werden sollen. Das haben wir in Schritten getan, auch mit eigentlich ganz guten Hygienekonzepten. Nun sollte versucht werden, den steigenden Infektionsdruck von den Schulen und Kitas zu nehmen, indem wir drum herum alles runterfahren und die Kontakte reduzieren. Das bedeutet eben auch, in den kommenden Osterferien nicht zu reisen, vor allen Dingen nicht in die Ferne. Sondern wir sollten die Füße stillhalten, um die Öffnung der Schulen und Kitas zu gewährleisten.
Also alles in den Lockdown, nur Kitas und Schulen offen halten?
Vielleicht muss man es etwas differenzierter sehen. Es gibt ja einige Landkreise oder sogar Bundesländer, die sehr stark betroffen sind. Da muss man nochmal genauer schauen, wie die Dynamik ist. Aber im Allgemeinen haben wir eigentlich eine ganz gute Handhabung, die Schulen offen zu lassen. Jetzt kommen bald die Osterferien und da kann man noch mal durchatmen und die Lage richtig beurteilen. Aber die Maxime sollte sein, in dieser dritten Welle die Schulen offen zu halten, wenigstens teilweise, also mit Wechsel- und Hybrid-Unterricht. Das setzt aber voraus, dass die Zahlen drum herum einigermaßen unter Kontrolle sind und wir nicht wieder in einen so starken Peak wie bei der zweiten Welle übergehen.
Junge Menschen und Kinder haben auch immer häufiger schwere Verläufe. Was weiß man darüber?
Das wird jetzt nach und nach sichtbar. Aber bei Menschen unter 80 gab es auch vorher schon ein Risiko. Die über 80-Jährigen sind jetzt mehr und mehr geschützt durch die Durchimpfung. Jetzt schaut man sich die nächste Gruppe an. Das zeigt nochmal sehr gut, dass die Priorisierung in verschiedene Stufen richtig war. So macht man Stück für Stück die Hochrisikogruppen sicherer. Und bald können wir dann hoffentlich ganz öffnen und müssen gar nicht mehr eine Priorisierung verfolgen, weil wir genug Impfstoff haben.
Wir sind mitten in der dritten Welle und müssen möglicherweise Lockerungen zurücknehmen. Gleichzeitig sind die Flieger nach Mallorca voll. Was erwarten Sie deshalb in den nächsten Wochen?
Ich verstehe nicht, wie man angesichts dieser labilen Lage und des drohenden Peaks der dritten Welle nach Mallorca fliegen oder überhaupt größere Reisen unternehmen kann. Es gibt das sehr hohe Risiko, dass man mit dieser Reise dazu beiträgt, dass es noch schlimmer wird und dass Schulen und Kitas zusätzlich gefährdet werden. Nicht nur durch das Eintragen von weiteren Viren, die mit den Flugzeugen zurück nach Deutschland kommen, sondern auch durch das Zurückbringen möglicher neuer Varianten. So sind ja auch die ersten Mutationen, also die brasilianische, die südafrikanische und vor allem die britische nach Deutschland gekommen. Mit anderen Worten: Zu Ostern sollte man wirklich darauf verzichten und darauf vertrauen, dass es im Sommer möglich ist, dann aber auch sicher und mit sehr guten Aussichten, dass wir die Pandemie beendet haben.
Anfang März gab es in Polen die Leichtathletik-EM, von der gesagt wurde, dass es die sichersten Spiele waren, die man haben kann. Jetzt stellt sich heraus: Es gibt immer mehr positive Fälle. Was bedeutet das mit Blick auf die Fußball-EM und die Olympischen Spiele?
Schon 2020, ganz am Anfang, haben wir gelernt, dass man Großveranstaltungen tunlichst lassen sollte. Das ist eine Plattform für die schnelle Verbreitung von Viren. Wenn wir das jetzt wieder so machen, dann haben wir immer noch ein Risiko, weil wir europaweit mit den Impfungen noch nicht so weit sind. Deswegen ist das gefährlich und ich verstehe auch überhaupt nicht die Bedingungen, die die UEFA gestellt hat, dass man nur dann Austragungsort werden kann, wenn man Zuschauer zulässt. Das ist grob fahrlässig.
Mit Timo Ulrichs sprach Katrin Neumann
Quelle: ntv.de