Panorama

Virologe Stürmer im Interview "Omikron ist kein Traubenzucker-Drops"

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Die Omikron-Welle rollt, doch auch Virologe Martin Stürmer erwartet, dass die Zahlen demnächst wieder sinken. Er warnt jedoch vor Vergleichen mit Nachbarländern - genau wie vor einer Verharmlosung von Omikron. Stürmer hält es zudem für möglich, dass Delta noch einmal zurückkommt.

ntv: Sie sind nicht nur Virologe, sondern auch Labor-Chef in Frankfurt. Wie sieht es momentan bei Ihnen aus, kommen Sie mit den Corona-Proben an Ihre Belastungsgrenze?

Martin Stürmer: Nein, eigentlich sind wir sogar schon drüber. Es ist tatsächlich so, dass direkt nach den hessischen Weihnachtsferien, also im Prinzip Anfang/Mitte Januar, eine Probenwelle über uns hereingebrochen ist, die uns definitiv über unsere Grenzen gebracht hat. Und da leider die Politik es bis jetzt nicht geschafft hat, die Testverordnung so anzupassen, dass wir mit unseren PCR-Untersuchungen hinterherkommen, müssen wir jetzt leider selber priorisieren und dementsprechend auch Untersuchungen zurückstellen. Es ist einfach nicht mehr schaffbar.

Martin Stürmer leitet ein Labor in Frankfurt, zudem ist er Facharzt für Mikrobiologie sowie Dozent am Institut für medizinische Virologie der Universität Frankfurt.

Martin Stürmer leitet ein Labor in Frankfurt, zudem ist er Facharzt für Mikrobiologie sowie Dozent am Institut für medizinische Virologie der Universität Frankfurt.

(Foto: Screenshot ntv.de)

Wo stehen wir in Deutschland momentan? Wir sehen, dass in Frankreich die Zahlen runtergehen - bei uns steigen sie weiter. Können wir auch damit rechnen, dass die Zahlen in Deutschland in den kommenden ein bis zwei Wochen sinken?

Über kurz oder lang werden auch wir in dieser Dynamik natürlich in ein Ende kommen, weil es nicht mehr so viele Menschen gibt, die sich mit Omikron infizieren können oder die durch Impfung und Boosterung einen gewissen Schutz haben. Insofern rechne ich damit, dass irgendwann die Zahlen wieder runterfallen. Aber wir müssen immer auch ein bisschen die Unterschiede sehen: Wie ist die Bevölkerungsstruktur, wie ist die Impfquote? Wir haben in Deutschland eben einen recht hohen Anteil an Ungeimpften in der Bevölkerung. Da sind natürlich noch viele Interaktionsmöglichkeiten für das Virus da. Insofern muss es bei uns nicht unbedingt exakt die gleiche zeitliche Dynamik geben wie in anderen Ländern.

Experten sprechen jetzt schon davon, dass nach Omikron vielleicht wieder die Delta-Variante zurückkommen könnte. Ist das Ihrer Meinung nach realistisch?

Wir haben Delta als eine sich sehr, sehr gut verbreitende Virus-Variante erlebt, die es geschafft hat, Alpha und alle anderen Varianten komplett abzuräumen. Natürlich sehen wir auch jetzt noch vereinzelt Delta-Fälle, obwohl Omikron mit weit über 90 Prozent sozusagen die Macht übernommen hat. Aber wenn wir jetzt Fehler machen, zum Beispiel durch eine selektive Impfung mit einem an Omikron angepassten Impfstoff, dann entsteht natürlich wieder ein Selektionsvorteil für Delta, sofern dieser Impfstoff nicht auch gegen diese Variante wirkt. Es ist nach wie vor eine Variante, sie ist nicht weg.

Das Robert-Koch-Institut möchte davon wegkommen, nur noch auf die Zahl der Neuinfektionen zu schauen. Stattdessen möchte das RKI sich auch auf die Krankheitsschwere und die Krankheitslast fokussieren. Ist das sinnvoll?

Wir müssen definieren, was wir wollen. Wenn wir sagen, dass es darum geht, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, dann sind das natürlich Parameter, auf die wir schauen müssen. Und entsprechend lockerer sieht man dann auf die Infektionszahlen - wir leben ja jetzt mit Zahlen, bei denen wir noch vor ein paar Monaten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht unterschätzen, dass Omikron eben auch kein Traubenzucker-Drops ist, sondern ein Virus, das wir noch nicht vollumfänglich kennen. Wir wissen auch noch zu wenig über Long Covid und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch Omikron-Infektionen das Gesundheitssystem an die Grenzen bringen können, wenn die Variante ungehindert durch die Bevölkerung läuft.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Ich könnte mir eine Ampel vorstellen, die Infektionszahlen, Krankenhauseinweisungen und Intensivbettenbelegung miteinander vereint und die Gewichtung dieser Parameter in Abhängigkeit von der Impfquote oder der Boosterquote setzt. Dann bleiben alle Parameter drin, die wir kennen und mit denen wir gelernt haben umzugehen. Wir haben aber gleichzeitig eine neue Balancierung, die beide Seiten berücksichtigt.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder fordert jetzt eine Öffnungsperspektive. Sind Sie auch dafür?

Es ist natürlich vernünftig, sich auch Gedanken zu machen, wie es weitergeht in der näheren und in der weiteren Zukunft. Die Frage ist, wie man es kommuniziert. Insofern kann man sich Gedanken und Pläne machen - aber diese sollten nicht so propagiert werden, als ob das alles nicht so schlimm sei. Das ist ein Spagat, den man gehen muss zwischen vernünftiger Vorausplanung und richtiger, adäquater Kommunikation.

Können wir denn Ihrer Meinung nach Richtung Öffnung gehen oder ist das noch zu früh?

Richtung Frühjahr und Sommer können wir schon deutlich mehr Richtung Entspannung schauen. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir im Sommer die Chance haben, auch mehr oder weniger über eine Normalität diskutieren zu können. Es steht und fällt natürlich mit einigen Parametern: Wie verhält sich das Virus? Was für Varianten hat Sars-CoV-2 noch in petto? Wie gut kommen wir voran mit der Impfung, mit dem angepassten Impfstoff?

Schauen wir noch auf das Beispiel Österreich. Da werden die Maßnahmen jetzt gelockert. Gleichzeitig wird aber auch eine allgemeine Impfpflicht eingeführt. Sind das die richtigen Schritte?

Eine zeitlich befristete Impfpflicht würde sehr helfen, uns gerade für den kommenden Herbst und Winter gegen möglicherweise neue Varianten zu wappnen oder auch gegen Omikron oder eine Rückkehr von Delta. Wenn wir da gut aufgestellt wären, dann müsste man sich im kommenden Herbst und Winter deutlich weniger Gedanken und Sorgen machen, dass wir wieder in eine solche Situation wie derzeit reinschlittern. Insofern finde ich eine Impfpflicht nicht verkehrt. Dass das geht, zeigen die Beispiele in den Nachbarländern, wo eher berufsabhängige Impfpflichten etabliert wurden. Auch da tut man sich in Deutschland ja offensichtlich schwer. Aber letztlich wird man wahrscheinlich gar nicht darum herumkommen, das Impfen wieder nach vorne zu bringen, wenn man wirklich eine Lockerung beschließen möchte. Ich glaube, in Deutschland werden wir das nur über eine allgemeine Impfpflicht hinbekommen.

Mit Martin Stürmer sprach Tamara Bilic

Quelle: ntv.de

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