Panorama

"Noch sind wir in der Mehrheit" Tillmans' Stillleben, Sex, Inszenierung - und Details

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Das löchrige Shirt  - es darf in Paris und Remscheid hängen. Es trägt den vielsagenden Titel "Around Me" und entstand 2022.

Das löchrige Shirt - es darf in Paris und Remscheid hängen. Es trägt den vielsagenden Titel "Around Me" und entstand 2022.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Überraschend, zärtlich, ergreifend, sexy, besonders – so sind Wolfgang Tillmans' Fotografien. An zwei gegensätzlichen Orten zeigt der renommierte Deutsche eine Welt, in der er leben möchte. Allons-y à Paris! Und wem das zu weit ist: Auf nach Remscheid!

Über eine lange Rolltreppe geht es in den zweiten Stock des Centre Pompidou in Paris. Schummriges Licht in einem kleinen Vorraum lenkt den Blick in eine riesige, gut ausgeleuchtete Halle der öffentliche Bibliothek, die "Bibliothèque publique d'information" (BPI). Dort versammeln sich facettenreiche Fotografien von Wolfgang Tillmans. Der renommierte deutsche Künstler gilt als einflussreichster Fotograf seiner Generation. Die Schau Rien ne nous y préparait – Tout nous y préparait (Nichts hätte uns vorbereiten können – Alles könnte uns vorbereitet haben) zeigt, was es heißt, oder besser, wie es sich anfühlt, zu leben.

Wolfgang Tillmans inszeniert Ausstellungen wie die in Paris und seine Fotos sorgfältig. Er glaubt nicht an Schnappschüsse.

Wolfgang Tillmans inszeniert Ausstellungen wie die in Paris und seine Fotos sorgfältig. Er glaubt nicht an Schnappschüsse.

(Foto: Courtesy of Galerie Buchholz, Galerie Chantal Crousel, Maureen Paley, David Zwirner)

In den 90er Jahren hält Tillmans Club- und Partyszenen fest. Nie voyeuristisch, eher fragil und einfühlsam. Er fotografiert Mode für Zeitgeistmagazine. Supermodels wie Kate Moss oder Freunde, Musiker und Unbekannte. Menschen, ganz nah und fast intim. Wolfgang Tillmans sucht nach zeitgenössischen Versionen von Landschaft, Stillleben oder Sexualität und verbindet sie mit eigenen sozialen Erfahrungen. "Die Hälfte meiner Arbeiten, wahrscheinlich sogar noch mehr, sind inszeniert", sagt er. Eine Menge Themen und Bilder habe er im Kopf, die er dann umsetze. Am Ende wirkt alles real.

In weltweit bedeutenden Museen blickt das Publikum auf seine Bilder: zurück in vergangene Jahrzehnte, Jahre, auf das Gestern oder ins Jetzt. Und es lernt, genau hinzuschauen, dem eigenen Blick zu vertrauen. Es geht um Details. So springt beim Betreten der BPI zunächst die Architektur ins Auge: Blaue Lüftungsröhren schieben sich an der Decke entlang. Auf dem Boden liegt ein melierter mausgraugrüner Teppich, seltsam angeordnete lilafarbene Farbflächen.

Tillmans überall

Tillmans überall: Auf den Computerbildschirmen der Lesekojen sind die Besuchenden der Bibliothek noch präsent.

Tillmans überall: Auf den Computerbildschirmen der Lesekojen sind die Besuchenden der Bibliothek noch präsent.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Aufgeblähte, mittlere oder postkartengroße Formate sind gerahmt oder scheinbar achtlos mit Heftklammern an die Wand gepinnt. An einer Fensterfront hängt ein Porträt von Lady Gaga. Sie sitzt in einem grünen Garten. Zugleich wandert der Blick auf den steinernen Platz vor dem Centre Pompidou und ins Häusermeer von Paris. Schier endlos viele Fotografien mischen sich auf 6000 Quadratmetern mit privaten Objekten, einem ausrangierten Handy, leeren Wasserflaschen, Magazinen und Büchern. In welcher Reihenfolge man seine Arbeiten betrachtet, stellt der Künstler frei.

Wolfgang Tillmans weiß, wie er ungewöhnliche Räume intelligent bespielt. Mit jeder Ausstellung zeigt er auch die Welt, in der er leben möchte, Bruchstücke, Teile aus seinem Leben. In dem renovierungsbedürftigen Centre Pompidou inszeniert er eine letzte Ausstellung, bevor das Haus Ende September fünf Jahre lang schließt. Völlig frei kann er kombinieren, hängen, auswählen. 1977 ist der spektakuläre Bau, von Parisern auch "La Raffinerie" genannt, eröffnet worden. Jetzt muss der damals verbaute Asbest raus. Die unterschiedlichen Teppichfarben, Relikte aus verschiedenen Jahrzehnten, sollen verschwinden. Der Brandschutz, die Energieversorgung und auch die blauen Röhren werden optimiert. Kurzum, alles wird erneuert und aufgehübscht.

Das Bild "Jodie in my kitchen" entstand 2023.

Das Bild "Jodie in my kitchen" entstand 2023.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Jodie Foster in der Küche

Auch in den schmalen Gängen neben den Feuerlöschern hängen Tillmans Werke. Sie sind überall – auf Lesetischen, Infopoints und in Regalen. Am Ende eines solchen Regalkorridors mit Büchern der BPI taucht eine Fotografie von Jodie Foster im gelben T-Shirt auf.

In kleinen Nebenräumen, die nie für die Öffentlichkeit zugänglich waren, laufen Filme, stehen Fotokopierer, manchmal ertönt Musik. Alles mit System, besonderer Ordnung und jahrelanger Vorbereitung. Gut 2000 Menschen kamen bis vor einem halben Jahr täglich in den zweiten Stock des Kultur- und Kunstzentrums, um zu lesen, zu studieren oder zu schreiben. Diese und das Gebäude bildet Tillmans im vergangenen Jahr ebenfalls fotografisch ab. Das Ergebnis ist jetzt ausgestellt.

Lässig, fast beiläufig

Raffinierte Farbdoppelung: Im "Freischwimmer" wiederholt sich das Blau der Kaminkacheln vom Haus Cleff.

Raffinierte Farbdoppelung: Im "Freischwimmer" wiederholt sich das Blau der Kaminkacheln vom Haus Cleff.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Wie blickt Wolfgang Tillmans auf die Welt? Wie kreuzt sich seine Sicht auf Menschen, alltägliche Szenen oder Landschaften mit der Linse seiner Kamera? Tillmans nimmt gerne Sachen unter die Lupe. "Sorgsames Beobachten liegt mir am Herzen", sagt er. Scheinbar Unbedeutsames rückt er in den Fokus. Die ikonische Architektur des Centre Pompidou erscheint bei ihm verschwommen - Tillmans jedoch schärft unsere Beobachtungsgabe, und die eigene Kamera im Smartphone ist schließlich allzeit bereit. Doch schon lange, bevor es die Ästhetik aus dem mobilen Telefon gab, hat seine Fotografie dieses Lässige und Beiläufige.

Wolfgang Tillmans lebt im Zeitalter dieser Transformation von der analogen zur digitalen Fotografie, neue Technologien schrecken ihn nicht ab. Im Gegenteil, er versucht, die Fotografie als Medium zu durchdringen. Und – er hat sich immer als Künstler verstanden. Er malt mit Licht, arbeitet mit Papier, Schatten, Bewegung. In seiner Dunkelkammer bannt er Licht ohne Kamera dank fotochemischer Prozesse auf Fotopapier. Farbige C-Prints werden durch Knickfalten dreidimensional, stecken unter Plexiglashauben. Traumhaft schön auch seine abstrakten "paper drops" aus Fotopapierbögen und die von Sammlern begehrten luftigen "Freischwimmer".

Immer öfter produziert Tillmans kleine Videos. In der "Bibliothèque publique d'information"gibt es in Lesekojen eine On-Demand-Sektion, in der erstmalig alle Filmchen der letzten fünf Jahre abgerufen werden können. Und plötzlich fährt man nachts mit dem Auto durch regennasse Straßen einer Stadt. Herrlich, wie und wo sich die Lichter spiegeln. Ist die Sequenz in Berlin oder London, wo er wechselweise lebt, entstanden? Oder vielleicht doch in Remscheid? Hier wurde er 1968 geboren.

Tillmans Fotos vom Arbeiteralltag im Remscheider Stahl-, Hammer- und Walzwerk sind im Haus Cleff zu sehen.

Tillmans Fotos vom Arbeiteralltag im Remscheider Stahl-, Hammer- und Walzwerk sind im Haus Cleff zu sehen.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Heimat

Aus Remscheid kommt eine Einladung, während er bereits mitten im Pariser Mammutprojekt steckt. Er kann nicht widerstehen. Die Architektur der beiden Ausstellungsorte könnte nicht gegensätzlicher sein: Brutalistische Architektur in Paris versus Rokoko in Remscheid. Farbiges, klar angeordnetes Röhrensystem versus bergische Schieferfassade, grüne Fensterläden und verschnörkelte Ornamente. Im Haus Cleff ist eigentlich das Deutsche Werkzeugmuseum beheimatet. Zehn Jahre wurde es denkmalgerecht saniert. Zur Wiedereröffnung schenkt das Haus sich selbst einen einmaligen Ausflug in die Kunst.

Wolfgang Tillmans bespielt drei Etagen, insgesamt 600 Quadratmeter und viele kleine Räume. Auch hier sitzt jedes Bild in Perfektion an seinem Platz. Das seiner Mutter - von hinten im Unterhemd mit Trockenhaube am Schreibtisch - entstand, als er 23 Jahre alt war.

Die São Paulo "library ladies" passen fünfzehn Jahre später ausgezeichnet in die Pariser BPI.

Die São Paulo "library ladies" passen fünfzehn Jahre später ausgezeichnet in die Pariser BPI.

(Foto: Courtesy Galerie Buchholz)

Im vergangenen Jahr porträtierte er in Remscheid einen Stahlarbeiter mit Hitzeschürze, Schutzhelm und offenem Visier. "Robin Fischer, Dirostahl, Remscheid" blickt so vertraut in die Kamera wie Kate Moss, die im durchsichtigen Hemdchen hinter einem Tisch voller Erdbeeren posierte.

Glamouröse Modelwelt trifft auf rauen Arbeiteralltag - vielfältige Aspekte des Lebens interessieren Tillmans so wie die drängenden Themen der Zeit. Bereits als Jugendlicher habe er sich für Politik interessiert, erzählt er bei einem Rundgang durch die BPI, der auf YouTube abrufbar ist.

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Ihm sei immer klar gewesen, wie sehr sein privates Leben und seine Freiheit, sich auszudrücken, auch von dem politischen Umfeld abhängig sei, sagt er weiter. 2017 gründet er "Between Bridges", eine Stiftung zur Förderung der Demokratie, der Völkerverständigung, der Künste und der Rechte von LGTBQ+ Menschen.

Nach dem Brexit im Jahr 2020 schreibt er, dass es unsere Aufgabe sei, die freie Weltordnung zu verteidigen; die Mitte zu halten und nicht zu den zentrifugalen Energien um uns herum beizutragen. Er wisse: "Noch sind wir in der Mehrheit".

Rien ne nous y préparait - Tout nous y préparait, bis 22. September im Centre Pompidou, Paris

Ausstellung in Remscheid, bis zum 4. Januar im Haus Cleff, Cleffstraße 2-6, 42855 Remscheid

Quelle: ntv.de

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