Entglittene Kinder, Trauer und Liebe Wie Eltern von Amokläufern damit leben
01.08.2016, 12:48 Uhr
Bei einem Trauergottesdienst wurden am Wochenende Kerzen für die Opfer von München entzündet.
(Foto: REUTERS)
Die Familie des Münchner Amoktäters David Ali S. steht noch immer unter Schock. Ihr Sohn, ein Mehrfachmörder. Und sie hatten keine Anzeichen bemerkt. So wie auch schon die Eltern von Tim K. und Robert S.
Für die Opfer von Amokläufen werden Kerzen angezündet, die Angehörigen können ihre Trauer teilen und erfahren Mitgefühl. Für die Eltern der Täter sieht das anders aus. Zwar haben auch sie ein Kind verloren, aber ihr Kind ist der Amokläufer. Sie sind die Menschen, die einen Massenmörder großzogen und seine Tat nicht verhinderten.
Masoud S. hat sich neun Tage nachdem sein Sohn David Ali in München neun Menschen erschoss, erstmals dazu geäußert, wie es seiner Familie geht. "Mir geht es schlecht", sagte er der "Bild am Sonntag". "Wir bekommen Morddrohungen, meine Frau weint seit einer Woche. Unser Leben in München ist erledigt."
Es sind Erfahrungen, die auch schon die Eltern anderer Amoktäter machten. Für die Familie von Tim K., der am 11. März 2009 mit der Pistole seines Vaters in und um Winnenden 15 Menschen ermordete, ist der Fall noch immer nicht abgeschlossen. Gerade erst wurde ein Verfahren gegen die Mutter eingestellt, mit der die Unfallkasse erreichen wollte, dass die Frau für die Behandlungskosten von Opfern und Hinterbliebenen der Bluttat aufkommen muss. Ein Gericht hatte zuvor deutlich gemacht, dass die Mutter ihre Aufsichtspflicht über den 17-jährigen Amokläufer nicht verletzt habe. Sie habe keine Kenntnis davon gehabt, dass der Vater die Schusswaffe offen im Schlafzimmerschrank liegen hatte, hieß es. Und sie hätte dies auch nicht wissen müssen.
Es ist nicht wieder gut zu machen
Tim K.s Vater indes wurde wegen 15-facher fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt, weil er seine Waffe nicht ordnungsgemäß weggeschlossen hatte, die Waffe, mit der Tim schließlich mordete. Jörg K. musste Millionenbeträge an Opfer, Hinterbliebene, die Stadt Winnenden und die Unfallkasse Baden-Württemberg zahlen. Schadensersatz, Schmerzensgeld, Wiedergutmachung, für etwas, das nicht wiedergutzumachen ist.
Das Haus in Winnenden verkaufte die Familie schon bald nach der Tat. Die Familienmitglieder nahmen andere Namen an, Tim K.s Schwester ging im Ausland zur Schule und studierte schließlich. Die Polizei hatte sie gewarnt, vor Reportern, vor Amoktouristen, vielleicht sogar vor Racheakten. Tim, ihren 17-jährigen Sohn, beerdigten sie schließlich anonym in einem Friedwald in deutlicher Entfernung zu Winnenden. Auch hier hatte die Polizei Bedenken, dass die Trauergäste nicht sicher wären und das Grab geschändet werden könnte.
Ute K. sagte 2014 der "Welt am Sonntag": "Den Tim, der diese Tat begangen hat, den kannte ich nicht." Sie habe ihren Sohn "schon lange vor dem 11. März 2009" verloren. Tims Vater, der versuchte beim gemeinsamen Schießtraining mit seinem Sohn ins Gespräch zu kommen, sagte im gleichen Interview, er vermisse ihn so sehr. Und er habe Alpträume, in denen er vor jemandem flieht, der nur einen halben Kopf hat. Auf die zermürbenden Fragen, was sie falsch gemacht haben, ob sie etwas hätten merken können, ob sie wieder lachen, ihren Sohn noch lieben dürfen, haben sie kaum Antworten gefunden.
Man könne nicht erwarten, dass jemand um ihren Sohn trauert, sagte Tim K.s Mutter auch. Oder ihn vermisst. Man könne eigentlich gar nichts erwarten. Es sei "aber nicht so, dass der Amokläufer von Winnenden nie geliebt wurde und auch nicht so, dass er nicht mehr geliebt wird".
Kein Platz für die eigene Trauer
Die Eltern von Robert S., der am 26. April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium elf Lehrer und fünf weitere Menschen tötete, sind in ihrer Heimatstadt geblieben. 2003 erklärte seine Mutter in der "Thüringer Allgemeinen": "Wenn wir hier nicht mehr leben können, dann können wir überhaupt nicht mehr leben. Vor der Erinnerung kann man nicht fliehen. Sie würde einen an jedem Ort der Welt aufs Neue einholen." Ihre Nachbarn und Freunde hätten ihnen aber auch kaum Vorwürfe gemacht.
Sechs Monate lang hatte Robert seiner Familie und auch seinen Freunden vorgetäuscht, er gehe noch zur Schule. Dabei war er längst wegen eines gefälschten ärztlichen Attests der Schule verwiesen worden. Unsicher sei er gewesen, arrogant, cholerisch, dabei unzufrieden mit seinem Aussehen, erinnern sich die Eltern später. "Ich denke immer, dass ich gerade in den letzten Monaten nicht wirklich für Robert da war", sagte Christel S. Sie hätten sich zu wenig gekümmert, diesen Vorwurf machten sie sich. Sie hätte immer mehr geschimpft als gelobt. Sie hätten sich bemüht, alle Fragen der Polizei zu beantworten. Auf ihre eigene Frage nach dem Warum gelinge ihnen das noch immer nicht.
"Da ist etwas in ihm vorgegangen, was ich mir nicht erklären kann. Das wirkt schizophren, krank, ich erkenne ihn nicht wieder", so beschreibt es der Vater. Ihren Sohn haben sie im Familiengrab beigesetzt. Unmittelbar nach der Tat hätten sie gar keinen Platz für die Trauer um ihren Sohn gehabt, sagte Günter S. ein Jahr nach der Tat. Es habe gedauert, bis sie verstanden hätten, dass auch ihr Sohn tot ist.
Ob Masoud S. das schon verstanden hat, darüber sagte er nichts. Er wolle zunächst einmal alles wissen. "Auch was für Medikamente mein Sohn genommen hat." Gerichtsmediziner hatten Antidepressiva im Blut von David Ali S. nachgewiesen. Davon, dass sein Sohn Informationen über andere Amokläufer sammelte, sich eine Waffe besorgte, davon habe er nichts gewusst, sagte sein Vater. Für die Familie S. hat der Weg erst begonnen.
Quelle: ntv.de