Panorama

Interview mit Timo Ulrichs "Wir sind am Ende der Pandemie"

Timo Ulrichs ist Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe. Der Mikrobiologe und Infektionsepidemiologe Ulrichs forscht und lehrt an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin.

Timo Ulrichs ist Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe. Der Mikrobiologe und Infektionsepidemiologe Ulrichs forscht und lehrt an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin.

Höhere Inzidenzwerte sind tragbar, wenn die anderen Corona-Parameter stimmen, sagt Professor Timo Ulrichs. Wichtig ist ihm aber, dass wir nicht die Kontrolle verlieren und die Pandemie einfach laufen lassen. Ulrichs hält nach wie vor am Ziel der Herdenimmunität fest, denn viele Ungeimpfte würden sich noch überzeugen lassen. Und mit der Durchseuchung und der Durchimpfung komme die Corona-Pandemie an ihr Ende.

ntv: Die vierte Welle habe begonnen, sagt RKI-Chef Lothar Wieler. Die große Frage ist jetzt: Anhand welcher Kennzahlen werden mögliche Beschränkungen kommen? Die Inzidenz allein, wie bei der Bundesnotbremse, dürfte ja eigentlich ausgedient haben, denn die Hälfte der Bevölkerung ist bereits doppelt geimpft.

Timo Ulrichs: Die Zahl der Neuinfizierten ist nach wie vor wichtig. Das ist ein Frühparameter, der eben sehr viel aussagt über die Dynamik der Virusausbreitung. Auch jetzt schon, wo wir diese beginnende vierte Welle sehen, sehen wir sie eben hauptsächlich mit den Neuinfiziertenzahlen. Man sollte in der Tat aber jetzt vielleicht nicht direkt über einen genauen Inzidenzwert nachdenken, ab wann wieder eine Bundesnotbremse oder andere Maßnahmen eingesetzt werden.

Welche Parameter sind noch wichtig?

Die Krankenhauseinweisungen und die Belegung der Intensivbetten müssen mit in den Blick genommen werden. Aber das machen wir ja auch schon. Und da werden wir, im Vergleich zu der zweiten und dritten Welle, eine wesentlich entspanntere Situation haben.

Trotz möglicherweise hoher Inzidenzen?

Wir können riskieren, dass es sehr hohe Neuinfiziertenzahlen gibt, ohne viele Opfer zu haben. Aber wir sollten das nicht so hoch laufen lassen, dass wir der Durchseuchung im Prinzip freien Lauf lassen. Wir sollten schon sehen, dass wir die Zahlen einigermaßen unter Kontrolle halten.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat gesagt, es wäre sogar möglich, dass eine Inzidenz von 800 in den nächsten Monaten droht. Wie bedrohlich ist das angesichts der Tatsache, dass sich wohl eher junge Menschen infizieren werden und junge Menschen nicht so schwer erkranken?

Man kann das zwar modellieren und hochrechnen, wie dann so in etwa die Fallzahlen aussehen werden, die Erkrankungszahlen bis hin zu den Todeszahlen. Allerdings weiß man es eben nie so ganz genau. Und deswegen müssen wir hier schon auch die Zahl der Neuinfizierten mit in den Blick nehmen. Wenn die sehr hoch ausfällt, kann es dann eben anteilig auch sein, dass wir schwere Covid-19-Verläufe haben werden, auch bei jüngeren Menschen.

Das sollten wir verhindern.

Ja, und das können wir ja verhindern. Wir haben schließlich nicht nur die zunehmende Zahl an Geimpften, sondern auch gelernt, was wirklich hilft, um so eine Welle abzuflachen.

Viele sagen, dazu gehört auch das Testen an den Grenzen.

Ja, dazu gehört unter anderem, dass wir bei den Reiserückkehrern genauer nachgucken und diese auch testen. Und dann möglicherweise Quarantänen einrichten, um einen weiteren Eintrag der Delta-Variante und anderen Viren zu verhindern. Das hilft schon mal, dass wir die absolute zirkulierende Virusmenge hier wenigstens etwas kontrollieren können.

Kritiker der Testpflicht für Reiserückkehrer sagen, sie mache keinen Sinn. Denn Delta sei ja schon längst bei uns dominant und wenn jetzt alle aus allen Ländern, die dann zurückkommen, getestet werden, da kommen ja auch möglicherweise Menschen zurück aus Ländern, in denen die Inzidenz deutlich geringer ist als bei uns.

Ja, das stimmt teilweise. Wir testen nicht, um die Delta-Variante draußen zu halten. Die ist ja längst bei uns. Deswegen macht es überhaupt keinen Sinn, da jetzt von Virusvarianten-Gebieten zu sprechen. Aber es gibt sehr wohl große Unterschiede in der Neuinfiziertenzahl, also in der Inzidenz der Infektionen. Und da sehen wir schon, wenn wir nach Spanien oder Frankreich gucken, dass da große Unterschiede zu Deutschland sind. Wenn jemand aus Finnland zurückkommt, wo die Zahlen sehr, sehr niedrig sind, dann ist das nicht so wahnsinnig sinnvoll, dass man da testet. Aber es ist ja eine generelle Reglung und deswegen sollte man da schön mit dabeibleiben. Das sollten alle Reisenden beherzigen und auch die Verantwortung für die anderen sehen. Für die, die man dann möglicherweise durch so eine Testung schützt vor einem importierten Virus.

Wie gut wir durch den Herbst kommen, hängt maßgeblich davon ab, ob wir es schaffen, die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Wie realistisch ist es, dass wir dieses Ziel auch erreichen?

Die Herdenimmunität ist der Zustand nach einer Durchimpfungskampagne einer Population. Es bedeutet, dass so viele Menschen geimpft sind, dass das Virus, wenn es eingebracht wird in diese Population, rein rechnerisch kaum noch auf Menschen trifft, die es infizieren kann. Das heißt, alle sind durch die eigene Impfung nicht mehr Adressat für das Virus und diejenigen, die dann nicht geimpft werden können, aus medizinischen Gründen zum Beispiel oder weil sie noch zu klein sind, die werden dann mitgeschützt. Die laufen sozusagen in der Herde mit und die meisten Menschen links und rechts von ihnen, die schützen durch ihren Impfstatus die Nicht-Geimpften mit.

Setzt eine hohe Impfquote voraus.

Die Durchimpfung muss schon ziemlich hoch sein. Und noch höher, wenn wir es mit einem sehr ansteckenden Virus zu tun haben, wie zum Beispiel der Delta-Variante, die sehr fit darin ist, sich von einem zum anderen zu übertragen. Das bedeutet, wir brauchen in etwa 80 bis 85 Prozent Impfabdeckung in der Gesamt-Bevölkerung. Die erreichen wir rein rechnerisch nur, wenn auch die 12- bis 17-Jährigen mitmachen beim Impfen.

Dann schaffen wir die 85 Prozent, also die sind möglich?

Ja, eigentlich schon. Sicher, das ist sehr ambitioniert ist, weil dann wirklich viele Menschen mitmachen müssen. Aber wenn man sich mal ansieht, was die Pandemie schon angerichtet hat, ist es eigentlich sehr leicht, sich für eine Impfung zu entscheiden.

Alle wird man ja nicht überzeugen können. Es gibt ja neben denen, die sich nicht impfen lassen können, weil zu jung oder vorerkrankt, auch die, die sich nicht impfen lassen wollen. Wird es dann wirklich genau an denen hängen?

Das wollen wir nicht hoffen und hoffentlich ist dieser Prozentanteil in der deutschen Bevölkerung recht gering. Dann würde man die im Rahmen der Herdenimmunität mitschützen. Aber eben alle die, die sich einfach noch nicht so richtig damit befasst haben, die vielleicht erstmal abwarten wollen oder gesagt haben "ach, später oder so", die sollte man jetzt ansprechen.

Die Herdenimmunität wird also kommen?

Die Herdenimmunität ist der Endzustand, wenn wir eben diese komplette Grundimmunisierung in der Bevölkerung erreicht haben werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass parallel ja noch eine gewisse Durchseuchung läuft. Das machen ja andere Länder jetzt gerade durch, Großbritannien zum Beispiel, dass parallel zur Durchimpfungskampagne auch eine Virusausbreitung läuft. Und auch ein Genesener hat erstmal einen Immunschutz, zumindest teilweise, und ist dann auch nicht mehr so empfänglich für eine weitere Virusausbreitung. Wir sind am Ende der Pandemie - und das Durchimpfen bringt uns da raus.

Mit Timo Ulrichs sprach Nina Lammers

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen