Pflegedienst in Berlin"Wir sind der einzige soziale Kontakt des Tages"

Millionen Menschen in Deutschland sind auf Pflege angewiesen. Rund 300 von ihnen betreut das "Renafan Netzwerk" in Berlin-Schöneberg. Ein Einblick in die Branche, die ein Grundpfeiler der Gesellschaft ist, aber oft nur wenig Wertschätzung erfährt.
Herr Wyczeski (Name geändert) sitzt bereits mit geradem Rücken auf dem Bett und wartet auf das tägliche Ritual. Die Wohnungstür ist nur angelehnt, das Klopfen an ihr also rein rhetorisch. "Wir sind es, der Pflegedienst, guten Morgen", trällert Seid Halilcevic und streift die blauen Schuhüberzieher über. Die Zeiger an der Wand stehen auf 10.10 Uhr. In Ruhe öffnet der schlanke Mittzwanziger seine Pflegetasche und kramt die Desinfektionstücher hervor - das Zeichen für Herrn Wyczeski, sein T-Shirt auszuziehen und die klaffende, sicher 15 Zentimeter lange, offene Wunde an der rechten Seite seines Brustkorbs zu entblößen. "Lungenkrebs", sagt Herr Wyczeski trocken, "einen Flügel haben sie mir abgenommen, aber dafür hat man ja zwei."
Durch die aufgesperrte Balkontür, die den kalten Rauch aus der kleinen Berliner Plattenbau-Wohnung hinauslässt, strahlt die morgendliche Mai-Sonne. Im Hintergrund spricht der Radiomoderator ununterbrochen, ohne dass ihm jemand zuhört. "Wann geht es in die Schweiz?", fragt Seid beiläufig, während er die tiefe Wunde desinfiziert und säubert, damit sie nicht "anfängt zu siffen". "Bald", versichert Herr Wyczeski, auf dem Bett liegend. Sein Sohn lebe dort und seit vier Wochen auch sein neugeborener Enkel, den will er besuchen. Seids Hände arbeiten routiniert, geübte Griffe, bereits hundertfach durchgeführt. Dennoch: Wenn es tief mit dem Desinfektionstuch in die Wunde geht, zuckt Herr Wyczeski zusammen. Das ist auch nach drei Jahren noch so - "und wird auch immer so bleiben", sagt der 66-Jährige.
"Ich wollte schon immer Menschen helfen"
Nach zehn Minuten sitzt Seid wieder im bunten "Renafan"-Firmenwagen und hakt ab: Wyczeski, Wundpflaster gewechselt. Die Liste, sie strukturiert Seids Schicht, auf ihr stehen 25 Namen und Adressen, auf die Minute genau getaktet, daneben die zu erbringenden Leistungen: Insulin-Spritze setzen, Tabletten mitbringen, Verband wechseln. Von Mensch zu Mensch, so lautet nicht nur das Unternehmens-Motto, es ist auch Seids Alltag. Der junge Mann mag den Kontakt zu den Klienten, wollte immer schon Menschen helfen. "Es ist zwar viel zu tun, aber ich versuche, mich nicht dabei zu stressen." Sein Metier ist die medizinische Pflege, einer von vielen Fachbereichen. Für die Klientinnen und Klienten geht es aber auch um das, was nicht auf der Liste steht: Das kurze Gespräch, die Gewissheit, dass morgen wieder jemand kommt. "Für einige sind wir der einzige soziale Kontakt des Tages."
Pflege, darunter fällt eine Vielzahl von Versorgungsbereichen, Berufsbildern und Tätigkeiten. Sie alle eint ein seit Jahren ausgerufener "Notstand", der eigentlich alarmieren sollte, aber stattdessen schon fast zur Gewohnheit geworden ist. Zwar hat die Zahl der Beschäftigten in Pflegeberufen in den letzten Jahren zugenommen. 2021 kamen im Vergleich zum Vorjahr bundesweit rund 44.300 dazu, nur sind auch immer mehr Menschen auf die Pflege angewiesen. Zwischen 2009 und 2019 ist ihre Zahl um 76 Prozent gestiegen. Dazu gehen eine halbe Million Pflegefachkräfte in den nächsten zwölf Jahren in Rente. "Fachkräftemangel" ist das Wort der Stunde.
"Klienten gibt es immer genug, was vielen fehlt, ist das Personal", sagt auch Gordana Sakic. Sie ist die Geschäftsführerin von "Renafan Netzwerk für ambulante Pflege" in Berlin-Schöneberg. Die Zentrale liegt mitten im bunten, quirligen "Regenbogenkiez". Ihre rund 300 Klientinnen und Klienten leben meist in der Gegend, werden zu Hause oder in ambulanten Wohngemeinschaften betreut. "Die Deutschen wollen nicht mehr in der Pflege arbeiten", erklärt sich Sakic, die selbst aus Serbien kommt, den personellen Notstand der Branche. 95 Prozent ihrer Beschäftigten seien aus dem Ausland, die meisten aus Osteuropa, einige kämen auch aus Asien. Anders als die Konkurrenz habe sie jedoch keinen Mangel an der Ressource Pflegekraft. Denn Sakic veranstaltet Castings, wie sie es nennt, im Ausland. "Wir fahren dann in andere Länder und dort werden Menschen vorstellig, die in Deutschland für uns arbeiten wollen." Wer es durch das internationale Assessment-Center schafft, bekommt noch vor Ort einen Arbeitsvertrag.
Vom Casting in Bosnien nach Berlin
So wie Seid. In seinem Heimatland Bosnien hatte er bereits eine Pflegeausbildung abgeschlossen, nur Arbeit gebe es dort keine, "zumindest nicht ohne Bestechungsgeld", lacht er, obwohl er es bitterernst meint. Nach dem absolvierten Deutschkurs fehlte noch ein Job - bis Sakic eines ihrer "Castings" in seinem Heimatort veranstaltete. "Da haben sich mehr als hundert Menschen vorgestellt, gelernte und ungelernte Pflegekräfte." Seid war einer von etwa 20, die den Job gekriegt haben. Das war vor fünf Jahren, da war er 21. Angekommen in Berlin lebte er zunächst gemeinsam mit Kolleginnen in einer Wohngemeinschaft der Firma. Inzwischen hat er sich hochgearbeitet, eine Familie gegründet. Bald will er die nächste Weiterbildung antreten, zum Pflegeleiter, sein beruflicher Traum. "In Bosnien genießen Pflegekräfte ein hohes Ansehen", sagt Seid. In Deutschland hingegen rümpfen Menschen oft die Nase. "Die meisten denken, ich wechsle nur Windeln. Klar gehört das auch dazu, aber es geht um viel mehr."
Zwar ist der Durchschnittsverdienst für Fachkräfte in der Altenpflege zuletzt gestiegen und lag laut dem Statistischen Bundesamt bei 3430 Euro brutto im Monat. Trotzdem kehren viele Pflegende der Branche den Rücken. Einer Studie der Bremer Arbeitnehmerkammer zufolge könnten 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte mehr zur Verfügung stehen. Dafür müssten sich jedoch vor allem die Arbeitsbedingungen verbessern. Schichtdienste, eine dünne Personaldecke und der enorme Zeitdruck setzen vielen zu.
In der Corona-Krise wurde die "Systemrelevanz" der Branche beschworen. Ob von Balkonen oder aus dem Bundestag, plötzlich hagelte es Solidaritätsbekundungen für die Beschäftigten, die lange im Schatten schufteten und auf die unzählige Menschen angewiesen sind oder eines Tages sein werden. Politisch sei man jedoch allein gelassen worden, berichtet Sakic. Lange habe es an Schutzausrüstung oder Desinfektionsmitteln gemangelt. Ihre Mitarbeitenden seien einem stetigen Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen, die ohnehin hohe psychische Belastung verstärkte sich nochmals. "Viele hatten Angst, sich oder andere anzustecken." Eingefangen hat sich das Virus früher oder später trotzdem jeder. "Es gab eine Zeit, da waren 14 Pflegekräfte auf einmal krank". Als Team habe man das durchgestanden, mit noch mehr Überstunden und Sonderschichten. "Im Balkan haben wir damals einen Krieg erlebt. Ich habe gedacht, wenn ich das schon überlebt habe, dann schaffe ich das jetzt auch noch." So spricht Sakic über die Corona-Pandemie.
Ringen um den Pflegebonus
Mit einer erneuten Prämie von bis zu 550 Euro will Gesundheitsminister Karl Lauterbach den Pflegenden danken, nachdem es vor zwei Jahren schon einen Bonus von 1000 Euro gegeben hatte. "Geld ist immer gut", sagt Seid, während er durch die verstopften Straßen West-Berlins zur nächsten Klientin fährt, die nur ein paar Blocks von Herrn Wyczeskis Wohnung entfernt wohnt. "Nur wird über sowas monatelang diskutiert. Als dann aber aus dem Nichts die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr beschlossen wurden, da habe ich mich schon gewundert." Sonst heiße es immer, es sei kein Geld da.
Für Frau Walthers (Name geändert) Haustür hat Seid einen Schlüssel, "falls mal was ist". Heute ist nichts, zumindest nichts anderes als sonst auch. Die 90-Jährige sitzt auf ihrem Platz im Wohnzimmer, hier scheint alles einen Platz zu haben, kein einziges Staubkorn ist auf dem ganz in weiß gehaltenen Dekor zu erkennen. Dreimal am Tag kommt jemand zu Frau Walther, hilft ihr bei der Körperhygiene, unterstützt sie im Haushalt und geht für sie Einkaufen. "Wir sind da, um die Kompressionsstrümpfe zu wechseln." Seid gelingt das Kunststück, freundlich zu brüllen. Und brüllen muss man bei Frau Walther, sie ist schwerhörig. Ihre alten Strümpfe hat sie bereits ausgezogen, neue anziehen möchte sie keine. "Die haben wehgetan", klagt sie im unverfälschten Berliner Dialekt. Seid nimmt das hin, ohne Widerrede. "Für einen Tag ist das ok. Außerdem ist das ihre Wohnung, vorschreiben können wir da sowieso nichts."
Seid will schon weiter, da hält Frau Walther ihn auf. "Ich habe beim letzten Mal vergessen, Brot auf die Einkaufsliste zu schreiben. Jetzt habe ich keins mehr." "Ich fahre gleich zum Bäcker, kaufe Ihnen eins und bringe es am Abend vorbei", versichert Seid lautstark. Auch das gehört zum Job - irgendwie. "Landbrot!", ruft Frau Walther noch hinterher. Schon sitzt Seid wieder im bunten Hyundai mit der Firmenaufschrift. Hinter Frau Walthers Namen kommt ein Haken. 10.41 Uhr, verrät der Blick aufs Smartphone, noch muss Seid sich nicht beeilen, aber wer weiß schon, was noch kommt. Der nächste Termin ist gleich um die Ecke. 23 sind es noch für heute. 23 Namen, 23 Leben.