Die weiße Fahne in der Hand hilft dem Mann nicht: Beim Spaziergang mit seinem Hund wird ein Ukrainer von einer heranfliegenden Drohne getötet. Videos dieser Art gibt es hundertfach. Die russischen Drohnenpiloten "trainieren", indem sie in Frontnähe Zivilisten jagen, sagt Oberst Reisner.
Ein unscharfer Film, aus der Luft aufgenommen: Zwei Männer gehen eine verlassene Landstraße entlang. Sie tragen eine weiße Fahne, ein schwarz-weiß gescheckter Hund läuft neben ihnen. Dann erscheint von links dieses kleine, fliegende Etwas im Bild. Eine Drohne. Am Ende des Videos, das die ukrainische Armee im Internet veröffentlicht hat, werden die Männer leblos auf der Straße liegen. Getroffen von einer tödlichen Explosivladung, die der kleine Quadkopter über ihnen abgeworfen hat. Der Hund, auch getroffen, zuckt noch.
Über die Herkunft dieses Videos und das, was es zeigt, gibt es Aussagen, die sich direkt widersprechen. "Auf den veröffentlichten Bildern ist ein Kriegsverbrechen der Armee der Russischen Föderation festgehalten", sagt das ukrainische Militär. Das Video belege Tötungen von Zivilisten durch ukrainische Drohnenpiloten, behaupten russische Medien.
Plausibel erscheint die russische Variante nicht, es gibt keine Hinweise darauf, dass sich die Ukrainer solcher Methoden bedienen. Dennoch lässt sich nicht unabhängig überprüfen, ob eine russische oder eine ukrainische Drohne den verbrecherischen Schlag gegen die beiden Spaziergänger ausgeführt hat.
Allerdings reiht sich das Video ein in eine Menge von mehreren hundert Filmen, die UN-Ermittler in den vergangenen Monaten gesammelt und analysiert haben, neben Interviews mit 226 Personen. Das Ergebnis der Untersuchung ist eindeutig. Vergangene Woche erklärten die Vereinten Nationen in New York, die russische Armee attackiere systematisch Zivilistinnen und Zivilisten in Frontnähe.
Auch die NGO Human Rights Watch hat 83 Videos analysiert, die russische Drohnenangriffe im Raum Cherson zeigen. Sie nehmen Personen ins Visier, Wohnhäuser, Privatwagen, Krankentransporter, alles, was als Ziel lohnend erscheint. Ihnen gemeinsam ist der surrende Ton, der in den Filmen hörbar wird, wenn die Drohne sich aus der Luft bis auf einige Meter genähert hat. Wenn die Zielperson das Surren hört, dann ist es fast schon zu spät, um Schutz zu suchen. Zu schnell sind die kleinen Quadkopter im Flug und zu wenig.
Angegriffene Ukrainer, die eine Drohnenattacke überlebt haben, berichten davon, wie die russischen Drohnenpiloten Jagd auf ihre Opfer machen. Die Kamera des Fluggeräts spielt ihnen in der Regel ein gestochen scharfes Bild auf den Tabletbildschirm. Egal, ob der Gejagte in einer offenstehenden Garage Schutz sucht oder unter einem Baum: Die Drohne fliegt surrend hinterher.
"Es kann keinen Zweifel daran geben, dass diese Drohnenpiloten mit Absicht handeln", bilanziert die UN-Untersuchungskommission. "Sie verfolgen wirklich Menschen, sei es in ihren Gärten, zu Hause oder auf der Straße", sagt der Chef des Ermittlerteams, Erik Mose, im Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters.
Neben dem Ziel, durch diesen Psychoterror Menschen aus frontnahen Gebieten zu vertreiben und den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen, haben die Drohnenangriffe auf Zivilpersonen für die russischen Piloten einen schlichten Lerneffekt. Besonders im südlichen Raum Cherson, wo es den russischen Truppen jüngst gelang, auf die andere Seite des Dnipro zu gelangen, beobachten Militärs Attacken solcher Art.
"Man nimmt an, was eigentlich unvorstellbar ist: dass die Russen ihre Drohnenpiloten dort im Süden gegen Zivilisten einsetzen, um sie zu trainieren", sagt der österreichische Ukraine-Experte Oberst Markus Reisner ntv.de. Statt auf freiem Feld mit ihren Geräten gegen Pappkameraden zu fliegen, bevorzugt man in der russischen Armee die Übung am lebenden Objekt. "Erst nach diesem Training kommen die Drohnenpiloten an die Front."
Quelle: ntv.de
