
Nicht nur Saisonarbeiter, Pflegekräfte, Kellner oder Lieferboten sind davon betroffen, dass es in Italien keinen Mindestlohn gibt.
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Italien ist das einzige Land in Europa, in dem die Gehälter in den vergangenen dreißig Jahren geschrumpft sind. Eigentlich das perfekte Thema für den politischen Kampf. Aber nicht in Italien. Das hat auch mit dem Ende der Volksparteien zu tun.
Mindestlohn: ja oder nein? Während selbst Deutschland diese Debatte bereits vor acht Jahren beendet hat, kocht sie in Italien immer wieder hoch, um dann nach kurzer Zeit ergebnislos abzuklingen. Aktuell hat sie an Fahrt aufgenommen, nachdem sich die EU-Staaten und das Europaparlament in dieser Woche auf zukünftig europaweit geltende Regeln für den Mindestlohn geeinigt haben.
Italien ist eines von nur sechs EU-Ländern, die noch keinen Mindestlohn haben. Dabei könnte er vielleicht gerade hierzulande so manchen Missstand beheben. Laut OECD ist Italien das einzige Land in Europa, in dem im Zeitabschnitt 1990 bis 2020 die Gehälter nicht gestiegen, sondern geschrumpft sind, um 2,5 Prozent. Außerdem bekommen von den insgesamt 23 Millionen Beschäftigten knapp 70 Prozent einen Netto-Stundenlohn von weniger als den jetzt zur Debatte stehenden 9 Euro. 16,8 Prozent erhalten sogar weniger als 8 Euro, so die offiziellen Zahlen des Statistikamts ISTAT.
500 Euro schwarz im Monat
Hinter den Zahlen stehen Menschen, die Tag für Tag kämpfen, um finanziell durchzukommen. Zum Beispiel die Restauratorin Laura, die trotz Studium und zwei Master-Abschlüssen in vier Jahren dreimal die Arbeit gewechselt hat und nicht mehr als 7 Euro die Stunde verdient. "Sie wollen wissen, wie ich mir meine Zukunft vorstelle?", sagt sie. "Gar nicht. Im Moment versuche ich, über die Runde zu kommen." Massimo arbeitet in einem Museum, bittet aber, keinen Ort anzugeben - überhaupt wollen alle Befragten ihre Anonymität wahren. Er verdient 8 Euro. "Viele kommen damit natürlich nicht aus und machen einen Doppeljob." Die Erfahrung der jungen Designerin Lucia ist noch schlimmer. In einem Designbüro bekam sie für 10 Stunden am Tag ein Monatsgehalt von 500 Euro, schwarz.
Die Beispiele zeigen: Nicht nur Saisonarbeiter, Pflegekräfte, Kellner oder Lieferboten sind betroffen. Jedes Jahr verlassen 70.000 meist gut ausgebildete junge Leute Italien, in deren Bildung der Staat investiert hat. Das führt dazu, dass Italien beim demografischen Wachstum weltweit an letzter Stelle liegt - weil man sich schlicht und ergreifend keine Kinder leisten kann. Schon deshalb müsste das Thema Gehalt eigentlich zu den obersten Prioritäten der Politik gehören. Dem ist aber nicht so.
Natürlich hat jede Partei ihre Meinung zum Mindestlohn. Die Demokraten und die Fünf-Sterne-Bewegung sind dafür. Die nationalpopulistische Lega, die Rechten von Fratelli d’Italia und die Neoliberalen von Berlusconis Forza Italia sind dagegen. Sie plädieren für weniger Steuer- und Beitragsabgaben zugunsten der Unternehmer, die dann - so die Idee - höhere Gehälter zahlen würden. So richtig erwärmen kann sich die Politik aber nicht für das Thema.
Working Poor nehmen dramatisch zu
"Früher gab es die großen Volksparteien, die sich für wichtige gesellschaftliche Instanzen einsetzten, eine Gesamtvision der Gesellschaft, der Welt und langfristige strukturierte Ziele hatten", erklärt Massimiliano Valerii, Generaldirektor des Gesellschafts- und Wirtschaftsforschungsinstituts Censis, im Gespräch mit ntv.de. "Heute haben wir sogenannte 'Leader', die sich in erster Linie von Umfragen und Likes führen lassen und deswegen lieber Boni aller Art unterstützen - für den Kauf von einem Fahrrad, für nachhaltige Sanierung von Bauten bis hin zum Kulturbonus -, um eine umgehende positive Reaktion zu kassieren."
Valerii selbst ist für die Einführung des Mindestlohns, nicht zuletzt, weil die Zahl der Working Poor in Italien dramatisch gestiegen ist. Mittlerweile verdienen über 5 Millionen Arbeitnehmer hierzulande weniger als 10.000 Euro im Jahr, was einem Durchschnittsgehalt von 830 Euro im Monat entspricht. Vor der Pandemie waren es über 4 Millionen. Die eine Million, die hinzugekommen ist, sind zum Großteil Menschen, die vor Corona mit ihrem Gehalt noch auskamen.
Die Unternehmer sind, wenig überraschend, strikt gegen die Einführung des Mindestlohns. Carlo Bonomi, Vorsitzender des Industriellen-Verbands Confindustria sagte unlängst: "Es gibt nur einen Weg, um das Rad zu wenden: Die Steuerlast und die Sozialbeiträge müssen sinken. Würde die Politik das endlich durchsetzen, gäbe es auch mehr Netto vom Brutto." In der Tat zahlt ein Unternehmer in Italien für 1000 Euro netto, an die 2000 Euro brutto. In diesem Betrag sind die Ferien und die bei einem Arbeitswechsel fällige sogenannte Abfertigung inbegriffen. Letztere steht in Italien jedem Arbeitnehmer am Ende eines Arbeitsverhältnisses zu und beträgt für jedes Jahr 6,9 Prozent vom Jahresgehalt.
Valerii gibt den Unternehmern recht, weist aber gleichzeitig auf einen begehbaren Weg hin. "Natürlich müssen die Unternehmer entlastet werden. Aber nicht, indem der Staat neue Schulden macht, sondern indem er Ordnung in den Boni- und Steuerentlastungsdschungel bringt, diesen effizient sortiert. Mit den so gewonnen Ressourcen könnten die Unternehmer entlastet werden, Mindestlohn sowie höhere Abfindungen wären kein Problem mehr."
Selbst Gewerkschafter lehnen den Mindestlohn ab
Von den drei großen Gewerkschaften unterstützt nur die einst zur Kommunistischen Partei PCI gehörende CGIL den Mindestlohn. Lugi Sbarra, Vorsitzender der früher christdemokratischen Konkurrenzgewerkschaft CISL, setzt stattdessen auf Tarifverträte als Leitplanke: "Denn der Mindestlohn nützt nur in Ländern, in denen es keine angemessenen Tarifverhandlungen gibt und wo, siehe da, die Gehälter auch am niedrigsten sind", sagte er in einem Interview. Gegen den Mindestlohn spricht sich auch Anna Di Cori aus, die Vorsitzende der kleinen Gewerkschaft SALIS, die sich für Haushaltshilfen einsetzt: "Der Mindeststundenlohn für eine Haushaltshilfe liegt heute bei 4,83 Euro, wenngleich die meisten ein Honorar zwischen 7 und 10 Euro bekommen. Ich befürchte, dass der Mindestlohn zu mehr Schwarzarbeit führen würde", sagt sie ntv.de.
Massimiliano Valerii weist diese These als absurd zurück. "Nur weil ein Risiko besteht, kann man doch nicht auf eine Maßnahme verzichten, die für mehr Gerechtigkeit sorgt." Genauso absurd findet er das Argument des Forza-Italia-Politikers und Ministers für öffentliche Verwaltung, Renato Brunetta. Dieser wies die Einführung des Mindestlohns zurück, mit der Begründung, sie entspreche nicht "unserer Kultur der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern". "Na ja, wohin diese Kultur geführt hat, sieht man ja", merkt Valerii trocken an.
Eine Sozialarbeiterin sagte kürzlich in einem Interview: "Wir Jugendliche habe irgendwie verinnerlicht, dass der einzige Weg, um in den Arbeitsmarkt zu kommen, der ist, uns ausnutzen zu lassen." Eine traurige Einsicht, die zudem im Widerspruch zur italienischen Verfassung steht. In dieser heißt es gleich in Artikel 1: "Italien ist eine demokratische, auf Arbeit gegründete Republik." Da ist etwas total aus den Fugen geraten.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 12. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de