Iraner erhoffen Ende des Regimes "Bald kommen die Märzproteste"
11.02.2020, 19:31 Uhr
Zum Jahrestag der islamischen Revolution will das Regime Menschenmassen auf den Straßen sehen.
(Foto: VIA REUTERS)
Teherans Straßen sind voll: Iraner feiern Religionsführer Chamenei zum Jahrestag der Revolution. Aber viele im Land glauben, dass die Tage des Regimes gezählt sind. Wann bricht die nächste Protestwelle los? "Im März", sagt unser Gesprächspartner, ein oppositioneller Autor aus Teheran. Um sich vor Verfolgung zu schützen, bleibt er anonym.
ntv.de: Das iranische Staatsfernsehen zeigt wie jedes Jahr Menschenmassen, die den Jahrestag der Revolution feiern. Erkennen Sie Risse in der Fassade?
Ich sehe tiefe Risse, ja. Es wirkt, als seien die Menschen aufgewacht, vor allem durch drei Ereignisse: durch den Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine, die Proteste im November und die Parlamentswahlen in zehn Tagen. Zum ersten Mal sprechen Leute im Internet offen aus, dass sie nicht wählen gehen wollen. Das haben wir hier noch nie gehabt. Ein anderer Riss: Das Wichtigste rund um den Jahrestag sind die großen Festivals - gerade zum Beispiel läuft das Filmfestival. Aber viele Regisseure haben ihre Filme zurückgezogen. Zum ersten Mal haben viele Künstler gesagt: "Wir nehmen nicht teil." In Maschhad wurden drei Theatergruppen verhaftet. Sie mussten unter Zwang erklären, dass sie ihre Stücke doch aufführen.
Aber zu den großen Feierlichkeiten sind wieder viele Menschen auf den Straßen.

Am Jahrestag der Revolution hat die Führung auch ein offizielles Gedenken an den vor 40 Tagen getöteten General Ghassem Soleimani ausgerufen.
(Foto: imago images/ZUMA Press)
Für das Regime ist es ungeheuer wichtig, dass sehr, sehr viele Iraner an diesen Paraden teilnehmen. Dafür gibt es die "Basidsch", eine Organisation, die das Volk mobilisiert. Die "Basidsch" soll 20 Millionen Mitglieder haben, und sie hat überall ein Büro - in jeder Schule, in jeder Behörde, in jeder unserer 75.000 Moscheen. Sie ist dafür zuständig, die Leute für solche Anlässe auf die Straße zu holen. Und letzte Woche hat Chamenei in einer Ansprache gesagt: "Es kann sein, dass ihr mich nicht mögt. Aber für den Iran müsst ihr teilnehmen."
Auf den Fotos der Paraden halten immer wieder Menschen das Porträt des getöteten Generals Ghassem Soleimani in die Höhe. Was war er denn nun für die Iraner - Held oder Mörder?
Für viele Menschen - auch Freunde von mir, die eigentlich in der Opposition sind - war Soleimani eine Art Ausnahme. Ein Soldat und Patriot, der unsere Grenzen gegen den Islamischen Staat geschützt habe. Dann haben die Leute immer mehr Informationen ausgetauscht und im Internet diskutiert, zum Beispiel darüber, dass er Proteste im Iran brutal niedergeschlagen hat. Das wussten wir vorher nicht. Schließlich haben sich auf Twitter viele Leute dafür entschuldigt, dass sie anfangs Partei für Soleimani ergriffen haben. Für andere ist er noch immer ein Held.
Wie gefährlich ist es derzeit, im Iran offen Kritik zu äußern?
Offen ist es sehr gefährlich. Ein Freund von mir, der Journalist ist, hat nicht mal Kritik geäußert, sondern er beschreibt einfach die Zustände, wie sie sind. Deswegen saß er kürzlich drei Wochen im Gefängnis. Eine Gruppe von 14 Regimekritikern, allesamt schon betagte Leute, hat in einem offenen Brief den Rücktritt des religiösen Führers Chamenei gefordert. Das Regime hat alle verhaften lassen, einige sind in der vergangenen Woche verurteilt worden: zu Haftstrafen zwischen sechs und 26 Jahren. Aber in sozialen Netzwerken wird jetzt viel kritisiert, auch - zum ersten Mal - während der offiziellen Veranstaltungen, wie beim Filmfestival.
Saßen Sie selbst schon im Gefängnis?
Nein, ich selbst noch nicht. Zweimal wurde mir der Pass entzogen. Mein Telefon wird abgehört. Mehr kann ich dazu nicht sagen, sonst erkennt man, wer ich bin. Das Regime weiß alles über mich. Und dieses Wissen hält es wie ein Damokles-Schwert bereit. Wenn etwas passiert, haben sie alle Informationen auf dem Tisch. Also öffentliche Kritik ist sehr riskant. Andererseits - wenn Sie in Teheran U-Bahn fahren, hören sie täglich Leute, die laut darüber diskutieren, wie schlimm das Regime ist oder die Wirtschaftsmisere. Im Taxi, auf der Straße, dort sprechen die Iraner offen darüber. Instagram und Twitter sind voller Kritik - bislang anonym, aber seit einigen Monaten wird sie offener.
Warum wagen die Menschen jetzt mehr?
Zum einen: Die Iraner spüren, dass das Regime nicht mehr so stark ist. Bei den Novemberprotesten hat die Führung viel Rückhalt verloren, als sie mit Maschinengewehren und Panzern gegen die Teilnehmer kämpfen ließ. Das Regime hat gezeigt, wie brutal es sein kann. Bis heute wissen wir nicht, wie viele Menschen dabei umgekommen sind. Wir schätzen 1500 bis 2000. Aber im Iran bekommen Sie keine Statistik. Nirgendwo. Wenn Sie aber demonstrieren und protestieren, und damit nichts erreichen als Leichen, dann kehren Sie zurück auf die Straße. Im November haben die Iraner keine Antworten auf ihre Forderungen bekommen. Die sind alle noch offen. Und zum anderen: Das Internet ist enorm wichtig. Wir sind 80 Millionen Einwohner, etwa 68 Millionen nutzen das Internet. Dort schreiben jetzt viele auf Twitter oder Instagram: "Bald kommen die Märzproteste!"
Sehen Sie eine Chance, dass Proteste das Regime ins Wanken bringen könnten?
Was markant ist: Wir haben in unserer Geschichte schon große Proteste gehabt - seit der Revolution 1979 etwa alle zwei, drei Jahre. Jetzt sind die Zeitabstände immer kürzer, 2019 hatten wir alle drei, vier Monate Proteste. Und ihre Natur hat sich verändert: Früher waren Studenten auf der Straße, im letzten November war das ganz anders - das waren Arbeiter, Bauern, "kleine" Leute. Aber die Tragödie unserer Geschichte ist: Wir sind politisch nicht organisiert, wir haben diese Tradition nicht. Wir haben es nicht gelernt, gegenseitig unseren Meinungen zuzuhören. Im November wurden 1500 Menschen umgebracht, aber es gibt überhaupt keine Organisation für den Widerstand. Wir gehen alle nach Hause. Es stimmt schon, viele meinen, dass die Tage des Regimes gezählt sind. Aber ich weiß nicht, wie sie zu dieser Überzeugung kommen. Vielleicht kann die Wirtschaftskrise das Regime in die Knie zwingen.
Wie kommen Sie im Iran mit der Krise zurecht?
Die Teuerungsrate zurzeit ist wahnsinnig hoch. Die Situation ist so schlecht, dass wir schon gleichgültig geworden sind. Wenn ich in einem Laden ein Kilo Äpfel kaufe und der Händler nennt mir irgendeinen Preis, dann gebe ich ihm das Geld, ohne nachzufragen. Ich weiß: In einer Stunde wird es noch teurer. Der Wechselkurs ist absurd - für einen Dollar zahlen Sie 130.000 Rial. Das ist unglaublich. Das tägliche Leben verteuert sich ständig, die Mieten steigen und wir zahlen das.
Aber wie?
Die Leute haben zwei bis drei Berufe. Wer Arzt ist, arbeitet zusätzlich als Taxifahrer, ein Ingenieur als Straßenhändler. Wenn Sie hier eine Stunde lang U-Bahn fahren, kommen in der Zeit etwa 200 Straßenhändler und bieten Ihnen ihre Waren an. Viele Kinder betteln, und die Straßenkriminalität hat stark zugenommen. Andererseits: Die Cafés und Restaurants sind voll, die Supermärkte sind voll. Die Leute bezahlen und genießen, was sie sich leisten können.
Das Interview führte Frauke Niemeyer.
Quelle: ntv.de