Reisners Blick auf die Front "Bei Nässe droht den Soldaten der 'Grabenfuß'"
14.10.2024, 17:18 Uhr Artikel anhören
Ukrainische Artillerie-Soldaten im Donbass
(Foto: IMAGO/ZUMA Press Wire)
Wenn ein Ort von den russischen Truppen erobert ist, liegt er meist in Schutt und Asche. Trotzdem ist er für die Truppen enorm wertvoll, denn die oft noch intakten Keller bieten Schutz - nicht nur vor feindlichem Feuer, sondern auch vor Nässe und Kälte, denn beides setzt den Soldaten enorm zu. Wie bedrohlich die Witterung in den kommenden Monaten wird, erklärt Oberst Markus Reisner ntv.de.
ntv.de: Herr Reisner, gestern meldeten die russischen Truppen, sie hätten die Kontrolle über die Ortschaft Mychailiwka in der Nähe von Pokrowsk. Ist das ein folgenreicher Schritt in Richtung Einnahme dieses wichtigen Logistik-Knotenpunktes?
Markus Reisner: In der Region Pokrowsk schaffen es die Russen Tag für Tag, 500 Meter bis einen Kilometer weit vorzumarschieren. An der Donbass-Front hat sich die Lage also noch immer nicht zugunsten der Ukraine verändert. Wir sehen auch signifikante Geländegewinne im Raum Toretsk, das ist nordöstlich von Pokrowsk. Der Druck auf die ukrainischen Stellungen bei Pokrowsk steigt weiter.
DeepState, eine Gruppe von ukrainischen Militärexperten, berichtete aus der Nacht zu Sonntag, dass die ukrainischen Streitkräfte im Oblast Donezk erfolgreich gewesen seien. In der Nähe der Stadt Nowohrodiwka hätten die Ukrainer ihre verlorenen Stellungen von den Russen zurückerobert.
Gerade jetzt tobt an der Front der Kampf um die urbanen Räume. Beide Seiten versuchen vor allem, Ortschaften in Besitz zu nehmen. Denn dort kann man sich für den Winter einrichten und die besten Voraussetzungen schaffen, um die lange Kälteperiode zu überstehen.
Viele Orte liegen in Schutt und Asche. Hilft das trotzdem?
Selbst wenn die Gebäude oberflächlich zerstört sind, gibt es zumeist Kelleranlagen, die man winterfest machen kann. Vor kurzem gab es zum Beispiel Bilder von Vovchansk, ein Ort im Raum nordöstlich von Charkiw. Die Gebäude dort sind völlig zerstört - Innenräume, Oberflächenstrukturen. Aber die Kelleranlagen unter der Erde sind zum Teil noch vorhanden und können genutzt werden. Es ist immer besser, eine solche Unterkunft in urbanen Räumen zu beziehen, als den Winter im freien Gelände, in provisorischen, vielleicht nur teilweise ausgebauten Erdbunkern zu überstehen. Das kann auch bedeuten, dass sich die Ukraine noch weiter zurückfallen lassen muss, als es mit Blick auf den russischen Vormarsch geboten ist. Mit dem Ziel, ein festes Winterquartier zu erreichen.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.
(Foto: ntv.de)
Dann wäre es für die Ukrainer sehr wichtig, ihre eigenen Stellungen zurückzuerobern?
Vor allem in der Region Donezk, wo so intensiv gekämpft wird, liegen die ukrainischen Truppen zum Teil in Stellungen, die über Jahre ausgebaut wurden. Die haben sich die ukrainischen Soldaten entsprechend gut eingerichtet. Wenn sie aus diesen Stellungen herausgedrängt werden, ist das natürlich fatal. Insofern ist es eine gute Nachricht, wenn eine Stellung zurückerobert wird.
Gelingt das aber nicht, und die Ukrainer müssen eine Stellung aufgeben und sich nach hinten zurückfallen lassen: Was passiert dann jetzt, wenn die Kälteperiode beginnt?
Wenn die Ukrainer jetzt aus einer Stellung herausgedrängt werden, dann gibt es entweder die Möglichkeit, in bereits vorbereitete Stellungen in der Tiefe zurückzuweichen, oder im schlimmsten Fall, wenn es diese nicht gibt, neue Stellungen selbst zu bauen. In diesem konkreten Fall bedeutet es: In diesem offenen, flachen Gelände unter permanenter Drohnenbeobachtung der Russen Schächte auszuheben. Die kann man mit Holzstämmen auskleiden, weitere Stämme oben darüberlegen. Anschließend wird das Ganze von oben noch einmal zugeschaufelt oder zugebaggert.
Die Soldaten haben also Bagger zur Verfügung, um solch einen Graben auszuheben?
Für diese Aufgaben gibt es Pionierkräfte, die in der Lage sind, solche Grabensysteme zu errichten. Zum Teil werden auch zivile Firmen mit dem Aushub beauftragt. Wir wissen, dass zum Beispiel die Ukraine westlich von Pokrowsk begonnen hat, neue Stellungen zu errichten.
Die stehen dann schon bereit, falls die Truppen vor den Russen weiter zurückweichen müssen?
Genau. Diese Ausbaumaßnahmen sind noch relativ sicher, weil sie in einer gewissen Entfernung zur Front stattfinden. Aber je näher zur Front eine Stellung entsteht, desto schwieriger und gefährlicher wird es. Die russische Seite kann diese Arbeiten durch Drohneneinsatz aufklären und auch behindern. Immer wieder sehen wir Bilder, auf denen sich zum Beispiel Kamikazedrohnen in Bagger stürzen, um genau diese Ausbaumaßnahmen unmöglich zu machen. Wenn es dann nicht gelingt, die Stellungen gut auszubauen, und der Winter trifft ein, dann haben die Truppen dort ein großes Problem: kein winterfestes Quartier, vor allem also keinen Schutz gegen Feuchtigkeit, Schnee und Kälte.
Ist Nässe an der Front gefährlicher als Kälte?
Wir wissen, dass in diesen Gegenden der Winter sehr hart ist. Wenn Nässe und Kälte zusammenkommen, kann es sehr schnell mit Personalausfällen losgehen. Gar nicht so sehr durch Granatenbeschuss oder andere feindliche Angriffe, sondern einfach durch die Witterung. Das Problem ist vor allem die Übergangszeit, die jetzt beginnt: Wenn es stark regnet, wenn die Kälte kommt, dann sammelt sich auch das Wasser in den ausgehobenen Gräben. Und wenn die keine Drainage haben, das Wasser also nicht abfließen kann, dann kommt es sehr schnell dazu, dass die Soldaten durchnässen, voller Schlamm sind, dass sie Grabenfüße bekommen. Wenn der Fuß über lange Zeit permanenter Nässe ausgesetzt ist und diese dann gefriert, dann drohen schwere Erfrierungen und Unterkühlung.
Passiert in diesen Gräben alles? Da wird gekämpft, gegessen, da müssen die Soldaten aber auch irgendwie zur Ruhe kommen?
Es handelt sich in der Regel um ein ganzes Grabensystem. In den vordersten Gräben wird tatsächlich gekämpft. Dort gibt es auch provisorische Unterstände. Von diesen vorderen Anlagen kann man durch Verbindungsgräben ein Stück in die Tiefe zurückweichen. In den hinteren Gräben werden Wunden versorgt, hat man mal die Möglichkeit, Körperpflege zu betreiben und vielleicht auch, kurz in einem Rotationsverfahren zu ruhen.
"Vielleicht auch kurz zu ruhen" - Pausen sind kein Standard?
Wir wissen von beiden Seiten, aus Berichten von den ukrainischen und den russischen Truppen, dass es diese Möglichkeit an der Front tatsächlich kaum gibt. Auf der ukrainischen Seite, weil einfach die Soldaten fehlen, um die Rotationen durchzuführen. Auf der russischen Seite, weil man den Kämpfern diese Pausen nicht zugesteht. Die Russen kämpfen mit enormem Druck, gerade jetzt vor dem Winterbeginn, um noch ein paar Erfolge zu erzielen. Aber grundsätzlich gibt es solche in der Tiefe gestaffelte Stellungen, wo die Soldaten die Möglichkeit haben, sich etwas zu regenerieren. Oder sagen wir mal: Das wäre der optimale Ausbauzustand. Je schneller aber die Front sich bewegt, je dynamischer sie ist, desto weniger stehen diese Möglichkeiten bereit. Man muss sie ja aus der Bewegung heraus errichten und hat dann keine Chance, sie in der notwendigen Qualität auszubauen. Wenn der Winter da ist, dann stehen Sie dort, wo Sie stehen. Entweder gut vorbereitet und eingerichtet oder eben nicht.
Am Wochenende meldete die Washington Post, dass die russischen Truppen immer häufiger auf Starlink zurückgreifen, das satellitengestützte Internet von Elon Musk. Lange Zeit war das ein Vorteil, den nur die Ukrainer für sich nutzen konnten. Ist das vorbei?
Am Beispiel Starlink kann man gut sehen, wie es den Russen immer wieder gelingt, innovative Fähigkeiten, die zuerst die Ukraine unterstützt haben, auch für sich zu nutzen. Und offensichtlich kann Moskaus Armee Starlink auch so einsetzen, dass sie aufgrund der Kommunikation, die damit möglich ist, taktische Ergebnisse erzielen. Es macht tatsächlich einen Unterschied.
Falls Elon Musk als Besitzer des Unternehmens ein Interesse daran hätte, die Russen an der Nutzung der Geräte zu hindern, wäre das überhaupt möglich?
Zum Teil maskieren die Russen ihre Empfangsgeräte, machen sie also für das Satellitenkommunikationssystem unkenntlich, um sie dann mit allen Fähigkeiten nutzen zu können. Theoretisch ist es möglich, einzelne russische Empfangsgeräte zu lokalisieren. Diese so einfach aus der Distanz abzuschalten, ist oft jedoch schwierig. Es gibt aber Videos, die zeigen, wie ukrainische Drohnen Starlink-Antennen der Russen zerstören. Dafür muss man aber sicher wissen, dass es sich auch wirklich um ein von den Russen genutztes Gerät handelt. Die andere Möglichkeit wäre, den Kommunikationsfluss in Richtung der Umgebung des Gerätes zu stören. Aber damit trifft man dann womöglich auch ukrainische Geräte, die dann auch nicht mehr arbeiten können.
Dann hat Russland hier also aufgeschlossen?
Das beobachten wir immer wieder. Beide Seiten sind inzwischen in der Lage, sich sehr schnell geänderten Bedingungen anzupassen. Eine technische Fähigkeit, die nur eine Seite nutzen kann, macht das Verhältnis vorübergehend asymmetrisch. Dann jedoch schließt der Gegner auf, erschließt sich dieselben Möglichkeiten und das Verhältnis ist wieder im Gleichgewicht.
Wo Sie gerade "Gleichgewicht" ansprechen: Wie ist die Munitionslage an der Front? Hat die Ukraine mehr Nachschub als es Ende 2023 der Fall war?
Hier gibt es verschiedene Quellen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt öffentlich, das Verhältnis Russland:Ukraine habe sich sehr verbessert, auf 3:1 oder 4:1. Verschiedene Militär-Thinktanks sehen aber noch immer einen starken Überhang auf russischer Seite von 8:1 oder sogar 10:1. Ukrainische Soldaten, die immer wieder in internationalen Medien zu Wort kommen, berichten auch von einem starken Überhang auf russischer Seite. Besonders in den Schwergewichtsräumen in der Region um Pokrowsk.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de