Politik

Reisners Blick auf die Front "Bei Russen herrscht Feierstimmung in sozialen Netzwerken"

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Russland überzieht die Ukraine nach Weihnachten und über Neujahr mit den schwersten Drohnen- und Raketenangriffen seit Kriegsbeginn. "Aus militärischer Sicht war 2023 für die Russen ein Erfolg", sagt Oberst Markus Reisner. Deshalb gehe Russland mit neuem Selbstvertrauen in das neue Jahr.

ntv.de: Das neue Jahr begann für die Menschen in der Ukraine mit einer Rekordzahl von 90 Drohnenangriffen in nur einer Nacht, mit vielen Verletzten und auch Toten. Ist das der neue Messwert russischen Terrors, auf den sich die Ukraine im Jahr 2024 einstellen muss?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: Ja, leider sind die Befürchtungen wahr geworden, dass Russlands zweite strategische Luftkampagne vor allem über Weihnachten und Neujahr einen Höhepunkt finden wird. In den letzten Wochen und Monaten hat die russische Seite versucht, ganz gezielt die Position der ukrainischen Luftverteidigungssysteme zu erkunden, um dann massive Schläge durchzuführen, wie letzte Nacht und der Angriff in der Nacht des 29. Dezembers mit 158 gezählten Drohnen und Marschflugkörpern.

Was ist das Ziel dieser Großangriffe?

Russland verfolgt damit drei Absichten. Zum einen ist es der Versuch, die kritische Infrastruktur weiter zu zerstören. Im Winter 2022/23 hat Russland laut ukrainischen Angaben circa 50 bis 60 Prozent zerstört. 10 bis 15 Prozent haben die Ukrainer wieder instand gesetzt, das heißt, ungefähr die Hälfte der kritischen Infrastruktur ist nach wie vor einsatzbereit. Die will die russische Seite zerstören. Hinzu kommen: Logistik, Lager, Kommandostrukturen der ukrainischen Streitkräfte. Das zweite Ziel ist, Terror auszuüben und die Moral der Ukrainer zu brechen. Allein im Dezember gab es bis auf zwei Ausnahmen jeden Tag Luftangriffe. Das heißt: Fast jede Nacht war die Zivilbevölkerung gezwungen, in die Luftschutzkeller zu gehen. Das zermürbt enorm.

Und das dritte Ziel?

Das ist ein weiteres militärisches. Russland versucht zunehmend, die Fliegerabwehrsysteme, die der Westen geliefert hat, zu übersättigen. Dahinter steckt das Ziel, eine stete Abnutzung zu erreichen, indem man versucht, auch ganz gezielt Patriot- und IRIS-T-Systeme anzugreifen. Es geht hier vor allem um die Munition, das ist das Entscheidende. Wenn genug Munition vorhanden ist, kann sich die ukrainische Seite gegen diese Angriffe weiter wehren. Wenn aber nichts da ist, wird es schwierig. Die Russen haben stetig die Anzahl der eingesetzten Marschflugkörper und Drohnen erhöht, was zeigt, dass sie es offensichtlich geschafft haben, vor allem in diesem Jahr die militärischen Rüstungskapazitäten enorm zu steigern.

Bedeutet die Übersättigung der Luftabwehr, dass die ukrainische Luftabwehr nicht mehr ausreicht? Vergangene Nacht konnten 87 von 90 Drohnen abgefangen werden, das ist sehr viel. Am Freitag konnte die Luftabwehr 44 von 158 Marschflugkörpern und Drohnen aber nicht abschießen.

Die Zahlen lassen sich nicht valide überprüfen. Was hier allerdings für die ukrainische Berichterstattung spricht, ist, dass sie am Freitag zugegeben hat, nur circa 75 bis 80 Prozent der einfliegenden Marschflugkörper und Drohnen abgeschossen zu haben. Was man nicht weiß: Welche Ziele wurden getroffen? Man sieht zwar Einschläge von Raketen oder herabfallenden Trümmern in den zivilen Wohnvierteln. Man sieht aber nur sehr wenig von militärischen Zielen. Um die Luftabwehr zu übersättigen, nutzt Russland eine gefährliche Kombination aus Drohnen und Marschflugkörpern. Zuerst werden Drohnen zur Übersättigung geschickt, damit die Luftabwehr darauf reagiert, ihre Raketen abfeuert oder die Geparden einsetzt. Dann kommen die Marschflugkörper. Da diese schnell und bodennah fliegen, sind sie erst sehr spät erkennbar und können so oft durchstoßen.

Haben die Marschflugkörper noch andere Vorteile?

Sie haben eine größere Einschlagskraft, während die Drohnen vor allem dem Terror und der Übersättigung der Flugabwehr dienen. Zudem sind die russischen Marschflugkörper Präzisionswaffen, vergleichbar mit dem Taurus oder dem Storm Shadow. Sie haben also eine sehr hohe Treffergenauigkeit. Das Dilemma ist: Wenn von 100 einfliegenden Marschflugkörpern 90 abgeschossen werden, dann ist das zwar eine sehr hohe Rate, aber die zehn, die durchstoßen, richten massive Zerstörungen an.

Werfen wir einen Blick auf die Front. Wie erging es den ukrainischen Soldaten dort in den vergangenen Tagen und über Weihnachten?

Die Ukraine versucht sehr intelligent den Blick von der Front wegzubewegen und hat spektakuläre Ereignisse erzeugt, die die internationalen Medien sofort aufgenommen haben. Zum Beispiel der Besuch von Präsident Selenskyj an der Front. Der Grund ist, dass es dort momentan für die Ukraine nicht gut läuft. Zwar gibt es von russischer Seite keine massiven Vorstöße, aber stetige Fortschritte. Unter zum Teil schwersten Verlusten arbeiten sich die Russen Meter für Meter voran. Die Ukraine hat in den letzten acht Jahren mehrere Verteidigungslinien angelegt und die Russen haben es geschafft, die ersten Linien zu durchbrechen. Sind sie einmal durch alle durchgebrochen, dann ist dahinter mehr oder weniger das offene Land. Das lässt sich gut bei Marjinka sehen. Die Stadt wurde jahrelang zur ukrainischen Festung ausgebaut. Trotzdem haben die Russen die Stadt eingenommen. Damit ist ein sehr wichtiges Befestigungsbollwerk für die Ukraine verloren gegangen.

Die Ukraine beginnt mittlerweile damit, in der Tiefe neue Verteidigungsanlagen zu errichten. Die Russen machen das gleiche wie letztes Jahr im Winter. Sie versuchen entlang der gesamten Frontlinie die Ukraine zu zwingen, ihre regionalen taktischen und operativen Reserven einzusetzen, in der Hoffnung, dass den Ukrainern irgendwann diese Reserven ausgehen und man dann durchstoßen kann.

Wie lässt sich das Jahr 2023 zusammenfassen?

Die Russen sehen 2023 als Erfolg an - aus mehreren Gründen: Militärisch ist es gelungen, nicht nur Bachmut einzunehmen, sondern auch Marjinka. Für uns mag es eine unbedeutende Stadt sein, aber es ist eine sehr wichtige Festung für die Verteidigung der Ukraine. Und das Entscheidendste aus russischer Sicht: Es ist gelungen, die ukrainische Offensive abzuwehren. Zu Beginn des Jahres war die Stimmung in den russischen sozialen Medien durchwachsen, weil man nicht wusste, was jetzt passieren wird. Aber das hat sich im Juni schlagartig geändert, als klar war, dass diese ersten Offensivversuche der Ukraine gescheitert sind. Aus militärischer Sicht ein absoluter Erfolg für die russische Seite.

Was verbuchen sie noch als Erfolg?

Ökonomisch ist es ihnen trotz zwölf Sanktionspaketen gelungen, die russische Wirtschaft zumindest mittelfristig zu stabilisieren und den militärisch-industriellen-Komplex anzuwerfen. Sie sind in der Lage, neue Waffen und Rüstungsgüter zu produzieren und sie stetig an die Front zu bringen. Das Gleiche mit neuen Soldaten: nicht nur Reservisten, sondern neue Vertragsbedienstete. Russland hat es geschafft, einen stetigen Nachschub für militärische Zwecke zu erzielen. Der dritte Bereich ist Diplomatie. Sie konnten die russische Position im sogenannten globalen Süden festigen und sogar neue Partnerschaften bilden. Neue Konflikte, wie zum Beispiel im Gazastreifen oder die Angriffe der Huthis im Roten Meer bereiten dem globalen Norden zunehmend Probleme. Das ist aus russischer Sicht ein Erfolg. Das gibt ihnen Selbstvertrauen. Das macht es der russischen Seite möglich, in der Informations-Kriegsführung entsprechend aufzutreten, die eigene Bevölkerung hinter sich zu scharen und massiv weiter anzugreifen. In den sozialen Netzwerken herrscht eine Feierstimmung, als ob es 2023 gelungen wäre, die alliierte Landung in der Normandie abzuwenden.

Was bedeutet das für das Jahr 2024?

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Russland geht mit einem sehr hohen Selbstvertrauen in dieses Jahr und hofft, entscheidende Erfolge zu erzielen. Das ist genau dieser Kulminationspunkt, dem wir uns nähern. Die USA sind zunehmend mit anderen Konflikten beschäftigt, die maritime Allianz im Roten Meer, die Unterstützung von Israel oder die Frage mit Taiwan. Damit sind nun die Europäer gefordert. Hier kann man aber kaum erkennen, dass die viel zitierte Zeitenwende tatsächlich umgesetzt wird. Es muss rasch und entschieden gehandelt werden.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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