Letzter Israel-Besuch Bennett nennt Merkel "moralischen Kompass" Europas
10.10.2021, 19:52 Uhr
Zum letzten Mal reist Angela Merkel als Bundeskanzlerin nach Israel - und wird dort herzlich empfangen. Sie versichert dem Land die Unterstützung Deutschlands. Es werden jedoch auch unterschiedliche Sichtweisen deutlich.
Bei ihrem Abschiedsbesuch in Israel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Verantwortung auch künftiger deutscher Regierungen für Israels Sicherheit und einen entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus betont. "Jeder Besuch in Yad Vashem berührt mich aufs Neue im Innersten", schrieb Merkel ins Gästebuch der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. "Die hier dokumentierten Verbrechen gegen das jüdische Volk sind uns Deutschen immerwährende Verantwortung und Mahnung."
Es ist der siebte bilaterale Israel-Besuch der CDU-Politikerin: Zuerst war Merkel 2006 dort, zuletzt vor drei Jahren. Danach stürzte Israel in eine tiefe innenpolitische Krise mit vier Wahlen binnen zwei Jahren. Mit der neuen, sehr diversen Regierung unter Naftali Bennett von der ultrarechten Jamina-Partei ist etwas mehr Ruhe eingekehrt - zumindest vorerst. Das israelische Kabinett hielt eine Sondersitzung zu Ehren Merkels ab - sie nahm als erste deutsche Regierungschefin an einer solchen teil.
"Dies ist eine ganz spezielle Mischung, und ich glaube, ein solches Maß an Diversität habe ich noch nicht kennengelernt", sagte Merkel zu dem breiten Bündnis, das acht Parteien vom rechten bis zum linken Spektrum und erstmals auch eine arabische Partei umfasst. Die "mächtigste Frau der Welt" genießt in Israel ein hohes Ansehen. Unvergessen bleibt ihre wegweisende Rede 2008 in Israels Parlament. In der Knesset hatte sie als erste Rednerin auf Deutsch gesprochen. Im selben Jahr wurden die deutsch-israelischen Regierungskonsultationen ins Leben gerufen, ein Ausdruck der besonders engen Beziehungen zwischen beiden Ländern.
Deutschland gegenüber Israel "nicht neutral"
Auch bei ihrem letzten Besuch als Kanzlerin bekräftigte Merkel den damals geprägten Begriff von Israels Sicherheit als "Teil der deutschen Staatsräson". "Und demnach müssen wir auch handeln, selbst wenn wir unterschiedlicher Meinung in verschiedenen Einzelfragen sind", so Merkel. Deutschland sei in dieser Frage "nicht neutral", sagte sie bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bennett. Dieser würdigte Merkel als "moralischen Kompass" für ganz Europa. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien "nie stärker" gewesen als derzeit, so Bennett.
Merkel trat in Israel in ihrer bekannt sachlichen Art auf. Dennoch wurde deutlich, dass ihr letzter Besuch als Kanzlerin für sie eine Herzensangelegenheit war. Die 67-Jährige hat ihre Unterstützung für den jüdischen Staat immer deutlich gemacht - auch wenn das Verhältnis zu Bennetts Vorgänger Benjamin Netanjahu als unterkühlt galt. Diese Themen standen bei Merkels Arbeitsbesuch im Zentrum:
Atomabkommen mit dem Iran
Israel hatte bisher im Gegensatz zu Deutschland die Rückkehr zu einem Atomabkommen mit dem Iran strikt abgelehnt. Bennett sagt, der Iran habe in den vergangenen drei Jahren einen "riesigen Sprung" in der Urananreicherung geschafft. Israel habe die Verantwortung, Teheran "mit Taten, nicht nur mit Worten" daran zu hindern, eine Atombombe zu entwickeln. Das Atomprogramm sei an einem "kritischen Punkt" angelangt, die Haltung Deutschlands in der Frage besonders wichtig. Merkel betonte, man müsse iranische Drohungen gegen die Existenz Israels sehr ernst nehmen. "Wenn wir uns anschauen, wie die Urananreicherung voranschreitet, ist das ein Thema großer Dringlichkeit." Sie habe das Atomabkommen niemals für ideal gehalten, aber für besser als nichts.
Zwei-Staaten-Lösung
Die Friedensgespräche zwischen Israel und der Palästinenserführung liegen schon seit 2014 brach. Mit Blick auf den Nahost-Konflikt plädierte Merkel aber noch einmal für eine Zwei-Staaten-Lösung, also die Bildung eines demokratischen und unabhängigen Palästinenserstaates, der friedlich an der Seite Israels existiert. "Ich wünsche mir den demokratischen jüdischen Staat Israel in Sicherheit. Das bedeutet, dass man auch eine Lösung für die Menschen in der Nachbarschaft finden muss", sagte die Kanzlerin.
Israel hat 1967 unter anderem den Gazastreifen, das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Die Palästinenser wollen diese Gebiete dagegen für einen eigenen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Bennett hatte jedoch Ende August in einem Interview mit der "New York Times" klar gesagt, dass es mit seiner Regierung keinen Palästinenserstaat geben werde - aber auch keine Annexion von Gebieten im Westjordanland. Ein palästinensischer Staat würde "sehr wahrscheinlich ein terroristischer Staat werden, der nur sieben Minuten von meinem Haus entfernt liegt", sagte er während des Merkel-Besuchs.
Coronavirus
Israel gilt im weltweiten Kampf gegen die Corona-Pandemie in vielen Punkten als Vorreiter. So hatte das 9,4-Millionen-Einwohner-Land bereits im Winter mit einer sehr erfolgreichen Impfkampagne für Aufsehen gesorgt. Aktuell sind rund 61 Prozent der Bevölkerung geimpft. Israel hat als erstes Land weltweit Ende Juli mit einer dritten Impfung begonnen. Bisher haben rund 39 Prozent der Israelis eine Auffrischungsimpfung erhalten. Trotzdem registrierte das Land Anfang September so viele Neuinfektionen wie noch nie: mehr als 11.000. Mittlerweile sinken die Zahlen wieder, dennoch stand Merkels Besuch im Zeichen strikter Corona-Restriktionen.
Antisemitismus in Deutschland
Israel schaut mit Sorge auf die deutliche Zunahme an antisemitischen Angriffen in Deutschland. 2018 hatte Merkel im Gespräch mit einem israelischen Fernsehsender neue Formen des Antisemitismus in Deutschland beklagt. "Wir haben jetzt auch neue Phänomene, indem wir Flüchtlinge haben oder Menschen arabischen Ursprungs, die wieder eine andere Form von Antisemitismus ins Land bringen", sagte Merkel damals. Antisemitismus habe es aber leider auch schon vor der Ankunft der vielen Flüchtlinge in Deutschland gegeben. Merkel versprach nun in Jerusalem, man werde weiterhin entschieden Antisemitismus bekämpfen. "Das wird nur gelingen, wenn wir die Verantwortung für die Geschichte wach halten, auch wenn es keine Zeitzeugen mehr geben wird."
Merkel-Nachfolge
Das Motto von Israels Sicherheit als Staatsräson hat sich auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf die Fahne geschrieben. Trotzdem fragen sich in Israel viele mit einer gewissen Unsicherheit, wie es nun nach Merkel weitergehen wird. Merkel versicherte in Jerusalem, die Sicherheit Israels bleibe ein "zentraler Punkt" für jede künftige deutsche Regierung. Gerade mit Blick auf die Shoah bleibe die Beziehung zu Israel ein "Glücksfall", sagte Merkel. "Ein Schatz, der immer wieder geschützt werden muss."
Der Regionaldirektor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch für Israel und die palästinensischen Gebiete, Omar Shakir, kritisierte, dass Merkel die israelische Besatzungspolitik als "vorübergehend" betrachte. Dies sei eine "Fiktion". "Die neue deutsche Regierung sollte die Menschenrechte ins Zentrum ihrer Politik gegenüber Israel und Palästina rücken", forderte er. Im Westjordanland und in Ost-Jerusalem leben mehr als 600.000 israelische Siedler. Die UNO kritisiert die Siedlungen als völkerrechtswidrig.
Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP