Politik

Interview mit Tafel-Gründerin "Zu uns kommt mittlerweile auch die Mittelschicht"

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Sabine Werth ist die Vorsitzende der Berliner Tafel.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Die Inflation in Deutschland treibt immer mehr Menschen in die Armut. Die Berliner Tafel müsse inzwischen Lebensmittel rationieren, so die Vorsitzende Sabine Werth im Interview mit ntv.de. Vom Entlastungspaket der Bundesregierung ist sie enttäuscht.

ntv.de: Erst die Pandemie, dann der Ukraine-Krieg und jetzt steigen auch noch die Preise rasant an. Wie sehr sind diese aufeinander gestapelten Krisen bei Ihnen zu spüren?

Sabine Werth: In den letzten Wochen kommen immer mehr Menschen zu uns, die sagen: Ich hatte nie vor, zur Tafel zu gehen, aber jetzt kann ich nicht mehr anders. Die Corona-Zeit hat dazu geführt, dass diese Menschen all ihre Reserven aufgebraucht haben, und nun stehen sie vor unseren Ausgabestellen.

Es sind also auch Menschen darunter, die man nicht für bedürftig halten würde?

Ja, es sind viele Solo-Selbstständige, viele aus der Veranstaltungsbranche, die Insolvenz anmelden mussten. In unseren Köpfen ist das eigentlich die Mittelschicht. Von daher befürchte ich, dass wir noch ein gewaltiges gesellschaftliches Leck erleben werden.

In vielen Städten mussten die Tafeln zuletzt sogar Aufnahmestopps für neue Kunden verhängen, weil der Andrang zu groß geworden ist. Droht das bei Ihnen auch?

Einige unserer Ausgabestellen mussten das Angebot schon reduzieren. Hier können sich die Kundinnen und Kunden nur noch alle 14 Tage Lebensmittel abholen, statt einmal in der Woche. Damit versuchen wir, Aufnahmestopps zu vermeiden. Aber auch bei uns sagen die ersten Stellen, mehr gehe eigentlich nicht. Die Zahl der Menschen, die kommen, hat sich in letzter Zeit teilweise verdoppelt.

Müssen die Menschen Abstriche machen bei der Menge an Lebensmitteln, die sie mitnehmen können?

Es ist sicherlich weniger geworden. Es kommen mehr Menschen, aber mehr Lebensmittel sind nicht da. Unsere Mitarbeitenden müssen den Kunden dann sagen: Heute leider keine vier Äpfel, sondern nur zwei.

Das dürfte ihnen schwerfallen.

Sie kennen einige Kundinnen und Kunden seit Jahren. Sie wissen genau, wie viele Erwachsene und wie viele Kinder in dem Haushalt leben. Dann tut es unseren Mitarbeitenden in der Seele weh, bei den Lebensmitteln strecken zu müssen. Sie sollen eigentlich für zwei oder drei Tage ausreichen. Plötzlich tun sie es nur noch für einen Tag.

Im Supermarkt kaufen doch aber gerade viele Bürger weniger, wegen der hohen Preise. Es müsste doch eigentlich mehr übrigbleiben, was als Lebensmittelspende bei Ihnen landet.

Leider kommt beim Obst und Gemüse sogar weniger. Die Supermarktketten stellen sich heute schnell um. Wenn sie merken, die Nachfrage sinkt, ordern sie nicht mehr so viel. Und man darf nicht vergessen: Viele Lebensmittelspenden gehen derzeit in die Ukraine.

Die Tafeln selbst leiden auch, vor allem unter der teuren Energie. Wie schwierig ist die Situation?

Unsere Sprinter fahren alle mit Diesel. Wir holen damit die Lebensmittel ab und fahren sie zu 47 Ausgabestellen und vielen sozialen Einrichtungen in ganz Berlin. Bisher hatten wir Spritkosten von 5000 Euro im Monat. Ich gehe davon aus, dass wir heute bei 8000 Euro liegen.

Wie gleichen Sie das aus, bekommen Sie genug Spenden?

Wir existieren nur durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Deshalb sind wir permanent damit beschäftigt, darum zu werben. Wir sind allen sehr dankbar, die uns als Ehrenamtliche oder mit Geld unterstützen.

Die Politik versucht gerade vieles, um die soziale Lage in den Griff zu bekommen. 30 Milliarden Euro gibt die Bundesregierung für zwei Entlastungspakete aus. Wird das die Nöte Ihrer Kunden verringern?

Wenn ich nur an den Tankrabatt denke, das ist lächerlich. Wer zu uns kommt, der hat kein Auto. Zudem sind ein Drittel Seniorinnen und Senioren. Bei denen ist auch nichts angekommen, weil sie bei der Energiepauschale vergessen worden sind. Ausgerechnet diejenigen, die diese Krise besonders trifft, haben von den Milliarden des Staates nichts.

Würde es helfen, wenn die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel auf null gesenkt wird?

Nein. Es war doch schon immer so: Wenn wir Deutschen sparen, dann am Essen. Und wenn wir sowieso schon sparen, dann bringt es auch nichts, wenn die Mehrwertsteuer wegfällt. Das hilft wieder nur Gutverdienenden.

Anderer Versuch: Die Ampel-Koalition will an diesem Freitag den Mindestlohn von 12 Euro durch den Bundestag bringen, schon im Oktober soll er kommen. Wenigstens das macht doch Hoffnung, oder?

Auch da habe ich Zweifel. Es wird Unternehmen geben, die schaffen das wirtschaftlich nicht. Wo sollen sie das Geld hernehmen, wenn sie schon heute nur ganz knapp den bisherigen Mindestlohn zahlen können?

Sie befürchten also, dass Beschäftigte wegen des höheren Mindestlohns ihren Job verlieren werden?

Ich könnte mir vorstellen, dass es mehr Firmeninsolvenzen geben wird, ja. Und viele Menschen könnten auf Mini-Jobs heruntergestuft werden.

Aber was ist dann die Lösung?

Hartz IV muss abgeschafft werden, so wie im Koalitionsvertrag versprochen. Es muss durch eine sinnvolle Sache ersetzt werden. Und die darf nicht wieder auf Kante gerechnet sein, weil man im nächsten Jahr unbedingt die Schuldenbremse einhalten will. So wie Hartz IV bisher berechnet wurde, ist es viel zu wenig.

Mit Sabine Werth sprach Philip Scupin

Quelle: ntv.de

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