Politik

Radikal progressive Verfassung Chile wird wieder zum Versuchslabor

Chile stimmt über seine Zukunft ab.

Chile stimmt über seine Zukunft ab.

(Foto: AP)

Vor drei Jahren explodierte jahrzehntelanger Unmut auf den Straßen Chiles. Nun stimmt die Bevölkerung über die Verfassung ab, die den Text aus der Militärdiktatur ablösen soll. Die Visionen sind groß, die Ängste auch. Teilergebnisse deuten auf ein Scheitern des Entwurfs hin.

Die Bilder, die kurz vor dem Wochenende der Entscheidung durch die sozialen Netzwerke rasen und über die Fernsehbildschirme flimmern, sind Bilder der Gewalt. Im Zentrum von Santiago de Chile, auf dem breiten Bürgersteig der zentralen Alameda, nähern sich etwa zehn Jugendliche einem Erwachsenen und fangen an, ihn zu schlagen. Er fällt zu Boden, sie treten auf ihn ein. Der Mann heißt Simón Boric, er ist Pressechef der staatlichen Universidad de Chile. Er erleidet leichte Verletzungen. Nicht weit entfernt errichten rund 30 Vermummte Barrikaden, schmeißen Molotow-Cocktails und liefern sich Scharmützel mit der Polizei. Sie wollen bessere Bildungsbedingungen erreichen.

Rund 200 Meter weiter sitzt Simóns Bruder, der 36-jährige Gabriel Boric seit vergangenem März im Präsidentenpalast. Sein Mandat, das hat der ehemalige Studentenführer mehrfach betont, sei davon abhängig, was mit der neuen Verfassung geschieht, die den Gesetzestext aus der Militärdiktatur von General Augusto Pinochet ersetzen soll.

Nun ist der Entwurf für eine neue Verfassung wohl mit klarer Mehrheit abgewiesen worden. 62 Prozent sprachen sich in einem Referendum gegen das neue Grundgesetz aus, wie die Wahlbehörde Chiles nach Auszählung von fast 90 Prozent der Stimmen am Sonntagabend mitteilte. Boric lud alle politischen Parteien in den Präsidentenpalast ein, um die Weiterführung des verfassungsgebenden Prozesses zu analysieren.

Viele Monate hatte eine verfassungsgebende Versammlung die neue Carta Magna ausgearbeitet. Die bisherige ist ein Symbol von Militärdiktatur, Unterdrückung und Mord, ein Symbol, das weg muss. Darin sind sich die meisten einig. Nicht aber darüber, wie der neue Text im Detail aussehen soll.

Molotow-Cocktails flogen in Richtung der Polizei.

Molotow-Cocktails flogen in Richtung der Polizei.

(Foto: IMAGO/Aton Chile)

Die beiden Vorkommnisse im Zentrum der chilenischen Hauptstadt könnten nur zwei von mehreren Anzeichen dafür gewesen sein, was Chile in den kommenden Monaten erneut bevorsteht. Denn wieder einmal wird das Land zu einem politischen Versuchslabor, diesmal aber nicht von US-Wirtschaftsliberalen aus dem Norden dirigiert, den sogenannten "Chicago Boys". Sondern von den Chilenen selbst. Das Ziel von Boric' Linkskoalition ist, im Schnellverfahren einen Sozialstaat nach europäischem Vorbild zu installieren. Die Sehnsucht danach basiert vor allem auf ungleich verteiltem Wohlstand, den die breite Bevölkerung in einem neoliberalen Wirtschaftsmodell erarbeitet hatte, von dem sie allerdings in der Breite vergleichsweise wenig abbekommt.

Die bisherige Verfassung ist die Grundlage dafür. Sie sieht einen schmalen Staat als reinen Regelhüter vor, der sich in gesellschaftliche und wirtschaftliche Angelegenheiten so wenig wie möglich einzumischen hat. Elementare Themen sind im neuen Text anders geregelt: unter anderen der Zugang zu Trinkwasser, der Umweltschutz, das Gesundheitssystem sowie die expliziten Rechte für indigene Volksgruppen. Kritiker prognostizieren einen wirtschaftlichen Niedergang wegen der neuen Verfassung. Befürworter halten einen verantwortungsvolleren Staat hingegen für zwingend notwendig, um den Anforderungen von Klimawandel und den sozialen Problemen gerecht zu werden.

Viel Arbeit für die Zukunft

Das Wasser etwa ist in Chile bislang privatisiert und die Rechte daran nicht selten in Händen von Konzernen, die es wirtschaftlich nutzen. Das Zugangsrecht für Trinkwasser hat keinen Verfassungsrang, dessen Besitz aber schon. Zugleich trocknet das Land seit 2010 wegen der sogenannten Megadürre immer mehr aus. In ganzen Landstrichen fehlt seit Jahren schon Trinkwasser, sie werden aufwändig mit Tanklastern versorgt.

Im Jahr 2019 hatte sich die jahrzehntealte Wut über soziale Unwuchten, autoritäre Tendenzen demokratischer Institutionen, über den Schmerz ungeheilter Wunden aus der Zeit von Pinochets Putsch und dessen Erbe auf den Straßen Chiles entladen. Monatelang lieferten sich die Menschen zuvorderst in Santiago Straßenschlachten mit der Polizei. Irgendwann rief die Regierung ein Plebiszit aus, bei dem sich 80 Prozent dafür entschieden, einen komplett neuen Verfassungstext ohne Beteiligung gewählter Politiker zu erarbeiten.

Vor diesem "Estallido Social" ("sozialer Ausbruch") wurde Chile je nachdem, wer sich dazu äußerte, entweder als verabscheuungswürdiges Versuchslabor des Neoliberalismus bezeichnet, wo die Bevölkerung zugunsten einer Elite nach allen Regeln der kapitalistischen Kunst geknechtet wurde. Oder aber respektvoll als Musterland Südamerikas, das sich mit freier Marktwirtschaft und einem schmalen Staat hochgearbeitet hatte in den Kreis der erlauchten Industrienationen und so zum einzigen Mitglied der OECD auf dem Kontinent geworden war. Dazwischen gab es kaum etwas.

Sollte die chilenische Bevölkerung dem neuen Verfassungstext zustimmen, müssen Regierung und der Kongress den kompletten Gesetzeskatalog entsprechend anpassen. Auch die Justiz dürfte von diesem Prozess stark beansprucht werden. Umstritten ist unter anderem die Definition Chiles als plurinationaler Staat. Rund 13 Prozent der Chilenen definieren sich als Indigene. Der Verfassungsentwurf räumt ihnen Autonomierechte ein, unter anderem eine eigene Rechtsprechung.

Der Mapuche-Anführer Héctor Llaitul (rechts, blaues Stirnband)

Der Mapuche-Anführer Héctor Llaitul (rechts, blaues Stirnband)

(Foto: AP)

Im Süden des Landes herrscht seit vergangenem Jahr - wieder einmal - der militärische Ausnahmezustand, weil ein Teil der indigenen Mapuche die staatlichen Institutionen nicht anerkennen wollen und Forstwirtschaftskonzerne von ihren früheren Ländereien vertreiben. Unter den Mapuche gibt es radikale Gruppen, die eine Abspaltung ihrer früheren Territorien von der Regierung in Santiago erreichen wollen. Das schürt Ängste in der nicht-indigenen Bevölkerung, die in den Regionen wohnt, sowie in der Wirtschaft, die dort aktiv ist.

Das Thema ist politisch hochexplosiv. Zuletzt verhaftete die Polizei den bekanntesten indigenen Anführer, Héctor Llaitul, wegen Holzdiebstahls, Verschwörung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Er ist eine Ikone des bewaffneten Widerstands im ehemaligen Kernland der Mapuche. Eine Ministerin, die zuvor über private Kanäle mit Llaitul das Gespräch gesucht hatte, musste deshalb zurücktreten.

Was passiert danach?

Bei den letzten Umfragen lagen die Gegner des Verfassungstextes etwa 10 Prozent vorne. Die verfassungsgebende Versammlung war von linken und progressiven Gruppen dominiert. Eben das fällt ihr jetzt womöglich auf die Füße, weil Konservative einzelne Punkte herausgreifen und scharf kritisieren, zuweilen auch komplett verfälscht. Zudem fühlen sich viele gemäßigte Wähler nicht repräsentiert, die Mitte-Links Bürgerorganisation "Amarillos por Chile" unter dem Literaturprofessor und Journalisten Cristián Warnken erhält große Unterstützung; sie tritt für gemäßigtere, graduelle Veränderungen ein.

Hunderttausende Menschen kamen zur Abschlusskundgebung der "Apruebo"-Kampagne in Santiagos Zentrum.

Hunderttausende Menschen kamen zur Abschlusskundgebung der "Apruebo"-Kampagne in Santiagos Zentrum.

(Foto: REUTERS)

Zum Zeitpunkt des ersten Plebiszits 2020 herrschte starke Wechselstimmung und viele ältere Chilenen gingen wegen der Pandemie nicht wählen. Die Teilnahme war freiwillig, die Wahlbeteiligung lag bei 50 Prozent. Nun herrscht Wahlpflicht und Meinungsforscher erwarten eine Beteiligung von mehr als 60 Prozent. Vor allem jüngere Chilenen wollen Veränderung, weil sie sich von den alten gesellschaftlichen Strukturen und Eliten gegängelt und benachteiligt fühlen. Das Ergebnis wird davon abhängen, wie viele 18- bis 30-Jährige abstimmen, und ob viele ältere Wähler, die den neuen Text tendenziell ablehnen, zur Wahl gehen.

Die mathematischen Berechnungsmodelle von zwei Meinungsforschungsinstituten prognostizierten zum Zeitpunkt der letzten Umfragen hingegen einen Sieg von "Apruebo", also der Befürworter. Bei der ersten Volksabstimmung und den Präsidentschaftswahlen hatten sie mit ihren Prognosen, die unter anderem auf Basis von Interaktionen in sozialen Netzwerken erstellt werden, wesentlich näher am späteren Ergebnis gelegen als die üblichen Meinungsumfragen.

Das Ergebnis könnte extrem knapp ausfallen. Sollte die neue Verfassung angenommen werden, wird der Aufschrei unter den Konservativen groß sein, womöglich kommt es auch danach zu Protesten oder Ausschreitungen. Gewinnt das Lager "Rechazo", der Ablehner, muss entweder ein komplett neuer Text ausgearbeitet werden, oder die erste Version wird überarbeitet. Zudem dürfte es wie schon 2019 zu großen Unruhen und Straßenschlachten kommen. Chile steht damit vor einer weiteren Feuerprobe. Denn Gewalt, wie beim Putsch Pinochets 1973, oder auch 2019 auf der Straße, die kann in Chile zu politischen Veränderungen führen.

Quelle: ntv.de

Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen