Politik

Viel mehr als ein SymbolDarum ist Pokrowsk so heftig umkämpft

11.11.2025, 09:49 Uhr
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Ukrainische Soldaten bei Pokrowsk (Foto: REUTERS)

Seit mehr als einem Jahr hält Pokrowsk den russischen Truppen stand. Doch wie lange noch? Was über die aktuelle Lage in Pokrowsk bekannt ist und weshalb die Stadt für beide Seiten eine große Rolle spielt.

Vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 lebten in Pokrowsk etwa 60.000 Menschen. Heute ist die Stadt weitgehend verwaist. Ihre Lage in der Region Donezk macht sie jedoch zu einem begehrten Ziel für Moskau.

In der Region Donezk fanden bereits einige der verlustreichsten Schlachten des Krieges statt, etwa in den Städten Bachmut, Mariupol und Awdijiwka. Im September 2022 erklärte Russland Donezk und Luhansk sowie die Regionen Cherson und Saporischschja für annektiert.

Die Einnahme von Pokrowsk wäre ein erheblicher Sieg für Moskau. Fällt die Stadt an die russische Armee, würde dies Moskau den weiteren Weg in die Region ebnen - bis hin zum ukrainischen "Festungsgürtel" von den Städten Slowjansk und Kramatorsk im Norden bis nach Druschkiwka und Kostjantyniwka weiter im Süden.

Wichtiges Logistikzentrum für die Ukraine

Pokrowsk liegt auf einem Versorgungsweg für die ukrainische Armee. Die Bergbaustadt ist daher für die logistische Versorgung der Verteidigungstruppen von entscheidender Bedeutung. Doch auch aus wirtschaftlicher Sicht will Kiew die Stadt unbedingt halten: Denn dort befindet sich die einzige Kokerei unter ukrainischer Kontrolle.

Sollte die Stadt fallen, wäre dies auch ein schwerer Verlust für die ukrainische Rüstungsindustrie. Denn der aus Kohle erzeugte Koks ist für die Stahlproduktion unverzichtbar.

Erbitterte Kämpfe

Seit Langem versucht die russische Armee, die Stadt einzunehmen - zu einem extrem hohen Preis für Kremlchef Wladimir Putin, wie der Sicherheitsexperte Joachim Krause im Interview mit ntv sagt: "Seine Truppen versuchen seit zwei Jahren in Pokrowsk einen Erfolg zu erringen. Er hat dabei 120.000 Leute verloren, um eine Stadt zu erobern, in der vor dem Krieg 60.000 Menschen lebten. So sieht ja kein erfolgreicher Militärführer aus."

Kiew wies zuletzt russische Angaben zurück, wonach Pokrowsk bereits umzingelt sei. Allerdings seien mehrere hundert russische Soldaten bereits in die Stadt eingedrungen. Bei einer Pressekonferenz Ende vergangener Woche sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass es "in drei Tagen 220 Angriffe auf Pokrowsk" gegeben habe. Am vergangenen Wochenende gab Kiew zudem die Entsendung von Spezialtruppen in die Region bekannt. Selenskyj besuchte Truppen eines Korps nahe der umkämpften Stadt und kündigte an, dass alles getan werden solle, um die Stadt unter ukrainischer Kontrolle zu halten.

Der österreichische Oberst Markus Reisner geht allerdings davon aus, dass die Stadt bereits für die Ukraine verloren ist. "Die Stadt selbst ist gefallen, Pokrowsk ist zu 90 bis 95 Prozent in russischer Hand", sagt er ntv.de. "Am Stadtrand, nordostwärts der stadtmittig durchlaufenden Eisenbahnlinie, gibt es aber einige große Plattenbauten, die sogenannte Zitadelle. Die dürfte noch in ukrainischer Hand sein."

Mögliche Folgen für den Kriegsverlauf

Russland könnte Militärexperten zufolge nach einer möglichen Einnahme von Pokrowks versuchen, "den Druck von Osten nach Westen über das Gebiet der Region Dnipropetrowsk entlang des Flusses Wowtscha" zu erhöhen. "Dadurch könnten sie den nördlichen Teil der Region Saporischschja erreichen", sagte Oleksiy Kopytko vom Center for Military-Political Investigations. Aus Sicht des unabhängigen russischen Militäranalysten Alexander Chramtschichin könnte die Einnahme der Stadt Russland "einen Durchbruch verschaffen".

Kopytko sieht angesichts des bevorstehenden Winters auch mögliche praktische Vorteile für die russische Armee. "Es ist besser, den Winter in einer Stadt zu verbringen und zu überstehen auch wenn sie zerstört ist (...) als auf freiem Feld", sagte er. Auch würde die Stadt mehr Schutz vor Drohnen bieten. Ähnlich sieht es Oberst Reisner: "Jetzt ist die Stadt für die Russen vor allem als Winterquartier interessant, denn die Stadt ist relativ intakt. Das hätte aber keine unmittelbare Bedeutung für den Kriegsverlauf. "

Propagandistisch wichtig

Politisch gesehen würde die Einnahme von Pokrowsk dem Kreml in seinem bald vier Jahre andauernden Krieg einen erheblichen Propagandaschub verleihen. Gelingt Moskau die Eroberung, wäre dies einer der bedeutendsten Gebietsgewinne seit der russischen Einnahme von Awdijiwka im Februar 2024. Die Einnahme von Pokrowsk würde das Kreml-Narrativ vom siegreichen Vormarsch seiner Truppen weiter befeuern.

Die ukrainische Armee ist trotz westlicher Militärhilfe sowohl in ihrer Truppenstärke als auch beim Material unterlegen. Für das angegriffene Land wäre der Verlust von Pokrowsk ein herber Rückschlag. Kiew könnte zudem in Erklärungsnot zu seiner Verteidigungsstrategie in Pokrowsk geraten. So hatte der renommierte Militärblogger und ukrainische Soldat Juri Butusow kürzlich die Ankunft der Spezialeinheiten in der "halb eingekesselten" Stadt kritisiert. Die Entsendung der Truppen "in ein offenes Gebiet in einer Todeszone, im vollen Blickfeld feindlicher Drohnen" nannte er in Onlinediensten eine "taktisch verfehlte Entscheidung".

Auch für das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen Selenskyj und US-Präsident Donald Trump wären die Folgen einer militärischen Niederlage der Ukraine in Pokrowsk ungewiss. Mehrere Initiativen Trumps, den Krieg zu beenden, liefen bisher ins Leere.

Quelle: ntv.de, ghö/AFP

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