Reisners Blick auf die Front"Die Russen gehen jetzt all in"

Im Donbass verteidigen die Ukrainer die letzten Zipfel der Stadt Pokrowsk und versuchen zugleich, ihre Soldaten in Sicherheit zu bringen. Oberst Reisner sieht die Russen dennoch unter wachsendem Druck.
ntv.de: Herr Reisner, die Lage in Pokrowsk spitzt sich seit Wochen zu. Wie ist die aktuelle Situation?
Markus reisner: Die Stadt selbst ist gefallen, Pokrowsk ist zu 90 bis 95 Prozent in russischer Hand. Am Stadtrand, nordostwärts der stadtmittig durchlaufenden Eisenbahnlinie, gibt es aber einige große Plattenbauten, die sogenannte Zitadelle. Die dürfte noch in ukrainischer Hand sein. Prekär ist die Lage auch weiter ostwärts, in der kleineren Stadt Mirnograd.
Inwiefern?
Im Bereich der Stadt und auch südlich davon halten sich noch größere ukrainische Truppenteile auf, die von den Russen eingekesselt werden. Manche glauben, dort seien einige Tausend Soldaten. Ich gehe davon aus, es sind einige Hundert. Die Ukrainer müssen also diese Soldaten da herausholen. Die Russen greifen in einer Zangenbewegung von Norden her an.
Es bleibt also nur ein enger Korridor.
Ja, wobei die Russen dieser Verbindung gar nicht persönlich im Weg stehen. Sie kontrollieren den Korridor mit Drohnen. Deren Piloten sitzen in dem Dorf Rodynske. Diese schneiden die Ukrainer von der Versorgung im Kessel ab. Die Ukrainer wiederum greifen von Norden her an, um diese Drohnentrupps abzudrängen. Dann könnten die eingekesselten Soldaten abziehen.
Offenbar haben die Ukrainer die Truppen dort so lange wie möglich halten wollen. Zu lang?
In der Ukraine gibt es einige, die das so sehen. In sozialen Netzwerken klagen viele darüber, dass wieder der gleiche Fehler gemacht wurde. Jetzt hat man nicht nur die Stadt verloren, sondern im schlimmsten Fall auch eine größere Anzahl von Soldaten.
Und Soldaten werden immer knapper.
Richtig. Meiner Bewertung nach haben die Ukrainer schon viele Soldaten in kleinen Gruppen herausgebracht. Das haben sie schon oft geschafft, denken Sie an Bachmut, Awdijiwka und andere vergessene Städte. Wenn große Verbände in Gefangenschaft gingen, wäre das eine Katastrophe.
Wenn das so riskant ist, warum machen sie es so?
Die Ukrainer wollen Zeit gewinnen, um im Hinterland neue Verteidigungsstellungen aufzubauen, das ist das Kalkül. Sie wollen die Russen so lange wie möglich abnützen, in der Hoffnung, dass diesen irgendwann die Energie ausgeht. Doch die Russen greifen unvermindert an.
Wie wichtig ist Pokrowsk für die Ukraine? Wäre es so schlimm, wenn sie die Stadt verlieren?
Pokrowsk ist auf keinen Fall eine Stadt mit strategischer Bedeutung. Es ist ein operativ bedeutungsvoller Knotenpunkt für Logistik, das ja. Aber jetzt ist die Stadt für die Russen vor allem als Winterquartier interessant, denn die Stadt ist relativ intakt. Das hätte aber keine unmittelbare Bedeutung für den Kriegsverlauf. Bei anderen Hotspots ist das anders.
Welche meinen Sie?
Persönlich finde ich Siwersk am gefährlichsten. Die Stadt ist der Angelpunkt zwischen der Nord- und der Südfront des Mittelabschnitts. Fällt die Stadt, könnte die Front relativ rasch in Richtung Westen springen. Auch in Saporischschja, südlich von Pokrowsk, ist die Lage prekär. Dort bedrohen sie die Stadt Huljajpole. Nehmen sie die ein, stehen sie hinter den ukrainischen Linien.
Im Hinterland baut die Ukraine ihre Verteidigungslinie aus. Doch oft besteht die nur aus ein paar Rollen Nato-Draht. Wie kann das sein, dass so ein Draht Soldaten effektiv aufhält?
Der Stacheldraht ist ja nur das eine. Die Ukrainer haben außerdem Stützpunkte wie an einer Perlenkette aufgereiht und überwachen die Front mit Drohnen. Tauchen irgendwo russische Soldaten auf, greifen sie innerhalb von Minuten an. Die Russen könnten den Draht mit Zangen zerschneiden oder sonst wie aus dem Weg räumen. Aber das dauert einfach zu lange. Die Russen greifen natürlich auch die ukrainischen Stützpunkte massiv an, mit Gleitbomben, Drohnen und Artillerie.
Reden wir über die russischen Angriffe auf die Gas- und Stromversorgung. Wie schwer sind die Schäden, auch im Vergleich zu den Vorjahren?
Dieses Jahr sind die Angriffe wesentlich massiver. Die Russen greifen täglich an, etwa alle 14 Tage massiv. Zuletzt am vergangenen Donnerstag mit mehr als 503 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen. Mehrere Umspannwerke wurden beschädigt, drei Wärmekraftwerke vollständig zerstört. Im Oktober haben die Russen bereits 60 Prozent der Gasversorgung ausgeschaltet.
Warum verstärkt Russland die Angriffe jetzt noch einmal?
Sie wollen die ukrainische Bevölkerung zermürben, aber etwas Neues kommt hinzu. Durch die täglichen ukrainischen Drohnenangriffe gerät Russland selbst unter Druck. Außerdem haben sie auf dem Schlachtfeld dieses Jahr wieder keinen Durchbruch geschafft. Die Russen gehen jetzt all in. Mit Angriffen in der Ukraine, aber auch mit mehr hybriden Attacken in Europa, denken Sie an die Drohnenflüge an Flughäfen. Sie hoffen wohl darauf, dass die Europäer stärker den eigenen Luftraum schützen wollen - und weniger Fliegerabwehr an die Ukraine geben.
Das heißt, die ukrainischen Angriffe sind mehr als Nadelstiche?
Die Ukrainer greifen offenbar täglich an, etwa im Umfang von einem Viertel bis einem Drittel der russischen Angriffe. Noch sind die Angriffe in ihrer Wirkung begrenzt. Wenn in Belgorod nach ukrainischen Angriffen der Strom ausfällt, kann das den Menschen in Moskau vorerst egal sein. Aber was ist, wenn die Ukraine die Angriffe fortführt oder sogar verstärkt? Dann könnten die Russen in größere Schwierigkeiten geraten. Das wollen sie verhindern. Daher greifen sie nun besonders heftig an.
Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen