Politik

Sprachlich unkluge Bezeichnung "Das britische Virus" existiert nicht

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B.1.1.7 wurde von einem britischen, weltweit anerkannten Speziallabor entdeckt - aber es ist nicht "britisch".

(Foto: imago images/Christian Ohde)

Medien machen es, Politiker machen es, auch Angela Merkel: Sie bezeichnen eine gefährliche, in England entdeckte Mutation von Covid-19 als "britisches Virus". Das erinnert nicht nur an Donald Trumps "China-Virus". Es ist auch wissenschaftlich falsch - und erscheint in diesen Zeiten politisch unklug.

Warnungen vor "dem britischen Virus" machen die Runde, seit im Dezember 2020 in einem spezialisierten englischen Genlabor eine hartnäckige Variante des "Coronavirus 19" entdeckt wurde. Auch diese Nachrichtenseite schreibt gelegentlich von der "britischen Corona-Mutation" oder Ähnlichem.

Zu den meisten Meldungen über ein vermeintliches "britisches Virus" war es nach dem 12. Januar in deutschen, österreichischen und schweizerischen Medien gekommen, nachdem die "Bild"-Zeitung Bundeskanzlerin Angela Merkel aus einer Sitzung des CDU-Präsidiums mit den Worten zitiert hatte: "Wir müssen das britische Virus in den Griff bekommen." Falls das nicht gelinge, seien weitere harte Maßnahmen unvermeidbar, womöglich auch ein Lockdown bis Ostern.

Reaktionen aus Großbritannien ließen nicht lange auf sich warten. Noch am Nachmittag des 12. Januar zog die Redaktion der "Daily Mail" in London einen direkten Vergleich zwischen Merkels Beschreibung "britischer Virus" und früheren Auslassungen von Donald Trump. Der frühere US-Präsident hatte Covid-19 immer wieder zum "China-Virus" erklärt und damit Bezug auf den wahrscheinlichen Ursprung des Virus in der chinesischen Stadt Wuhan genommen. Dass Trump selbst auf einen viralen Effekt abzielte - nämlich Stimmung gegen China zu machen -, darauf deuteten auch andere Äußerungen. So lancierte er im Juni 2020 das gehässige Wortspiel "Kung Flu": ein Mix aus der chinesischen Kampfsportart "Kung Fu" und "flu", dem englischen Wort für "Grippe".

Die Bemerkungen des früheren US-Präsidenten waren weltweit als rassistisch und diskriminierend kritisiert worden. Was seine Worte tatsächlich befeuerten, waren Diskussionen über die Verantwortung und womöglich eine Schuld Chinas: Als sei das Virus dort absichtlich gezüchtet worden. Genährt wurden solche Theorien durch Fiktionen wie der Hollywoodfilm "Contagion" aus dem Jahr 2011 oder das Buch "Die Augen der Dunkelheit" aus dem Jahr 1981. Darin hatte Autor Dean Koontz über eine tödliche Viruspandemie geschrieben, die zunächst in einem russischen Labor ausgelöst wurde - bevor er daraus in späteren Auflagen nach 1989 ein chinesisches Labour machte, das sich ausgerechnet in Wuhan befindet.

Das Virus ist nicht "britisch"

Was nun die bei uns seit einigen Wochen geläufige Bezeichnung "das britische Virus" betrifft, drängt sich alleine mit der Vorgeschichte um das "China-Virus" die Frage auf, ob sie ungerechtfertigt und ebenfalls diskriminierend ist - und wenn ja, in welchem Maße. Drei Interpretationen liegen nahe:

  • Die hervorgehobene Herkunftsbezeichnung "britisch" insinuiert, dass es sich um ein neues Virus handelt, nicht um eine Variante von Covid-19.
  • Durch die Herkunftsbezeichnung entsteht außerdem der Eindruck, der Ursprung dieses Virus liege in Großbritannien. Zwar wird wahrscheinlich niemand von einer absichtlichen Züchtung durch die Briten ausgehen. Doch auch die unterschwellig gestreute Vorstellung einer unabsichtlichen Entstehung auf den britischen Inseln, kurz: einer Panne, wäre diskriminierend.
  • Darüber hinaus birgt die Formulierung "das britische Virus" das Potenzial, zum Sinnbild oder Inbegriff zu werden: für eine ungewöhnliche und einzigartige Fehlentwicklung auf den britischen Inseln, die auch im Zusammenhang mit anderen Problemen stehen könnte, etwa dem Brexit und seinen Folgen. Es wäre eine Interpretation, die mögliche bestehende Voreingenommenheiten verstärken und in den Köpfen vieler Menschen die Bildung von Stereotypen begünstigen würde. Im Kern: Die Briten und ihre Gesellschaft sind total krank.

In Großbritannien ist ausführlich darüber berichtet worden, wie es zu den Meldungen über "das britische Virus" gekommen ist. Die Voraussetzung bildet ein auf genetische Reihentests spezialisiertes Labor, das "Covid-19 Genomics UK Consortium". Es soll mittlerweile die Genstruktur von mehr 200.000 Coronaviren untersucht haben - das ist mehr als der Hälfte aller Gentest, die jemals unternommen wurden. Dabei wurde im Dezember eine neue, besonders ansteckende und aggressive Mutation entdeckt. Professor Sharon Peacock, die Leiterin von Cog-UK, sagte der BBC: "Ob diese Variante in Großbritannien entstanden ist und ob die Testperson der erste Träger ist, können wir nicht sagen." Möglich ist also, dass das vermeintlich "britische Virus" irgendwo auf der Welt entstand, aber von Cog-UK in der englischen Grafschaft Kent zum ersten Mal entdeckt wurde. Fest steht bislang nur, dass es weder ein Zufall noch Schlamperei oder eine Panne war, die zur Identifikation der offiziell "B.1.1.7" genannten Mutation geführt hat. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer professionellen, international anerkannten Forschung, über die Sharon Peacock selbstbewusst sagt: "Wenn es irgendwo etwas zu finden gibt, dann finden wir es hier zuerst."

Diese Erkenntnisse haben dazu geführt, dass inzwischen auch hierzulande die meisten Medien von einer "Variante" oder einer "Mutation" von Covid-19 berichten, die in Großbritannien entdeckt worden ist. Ähnlich hat sich von Anfang an auch der französische Premierminister Emmanuel Macron ausgedrückt.

Doppelt enttäuscht von Merkel

Umso verblüffender ist es, dass Bundeskanzlerin Merkel weiterhin vom "britischen Virus" spricht. So auch während ihres Interviews mit RLT und ntv. "Ich kann's Ihnen noch nicht sagen, was wir Mittwoch machen werden", sagte sie, "weil ich noch fünf Tage die Entwicklung abwarten muss. Weil ich mir angucken muss, wie weit ist das britische Virus schon vorgedrungen."

Für den britischen Journalisten Daniel Johnson, der viel aus und über Deutschland berichtet hat (und der 1989 während der weltberühmten Pressekonferenz von Günter Schabowksi mit der letzten Frage "Was wird mit der Berliner Mauer geschehen?" in die Geschichte eingegangen ist), stellt Merkels Wortwahl eine "doppelte Enttäuschung" dar: "Erstens ist Merkel eine promovierte Naturwissenschaftlerin, die Forschern ihr Ohr schenkt und die gelernt hat, mit Forschungsergebnissen genau und vorsichtig umzugehen, statt sie ungenau, unvorsichtig und letztendlich falsch wiederzugeben. Zweitens weiß sie, wie angespannt, um nicht zu sagen, wie entzündlich das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union und auch Deutschland im Moment ist."

Damit spielt Johnson auf das konfliktbeladene Verhältnis an, das in der jüngsten Vergangenheit auf beiden Seiten des Ärmelkanals entstanden ist: einmal durch die quälenden Verhandlungen über den inzwischen vollzogenen Brexit, zum anderen wegen des Streits, der über Lieferungen von Impfstoffen entbrannt ist. Dabei spielt das Verhalten des britischen Premierministers Boris Johnson eine zentrale Rolle, der früher selbst Journalist war und mit dem Daniel Johnson weder verwandt noch verschwägert ist. Mit unzähligen vorschnellen und fahrlässigen Behauptungen sowie vorsätzlichen Lügen hat Boris Johnson immer wieder Gift produziert.

Was würde er machen, wäre eine Covid-19-Mutation in einem deutschen Labor entdeckt worden? Vermutlich genau das: Er würde in Trump-Manier stänkern und von "the German virus" sprechen.

Die Geschichte hat gezeigt, dass negative Bezeichnungen wie "Spanische Grippe" (die nicht in Spanien entstand) oder "sibirische Kälte" (die es auch hierzulande geben kann) mindestens so stark haften wie eine "Bayerische Creme", eine "Sauce Hollandaise" oder andere kulinarische Herkunftsbezeichnungen à la "Aachener Printen", "ungarisches Gulasch" oder "französischer Champagner". Handelt es sich nicht um Köstlichkeiten, sondern um Probleme, sind es Stigmatisierungen, die hartnäckiger sein können als ein Virus. Vor einem "virus made in Germany" schützen wir uns wohl am besten, indem wir nicht selbst ein "virus made in the UK" verbreiten.

Quelle: ntv.de

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