Trauer um Christian Ströbele Der sich treu Gebliebene ist gegangen
31.08.2022, 17:20 Uhr
Niemals ohne Fahrrad: Christian Ströbele vor einigen Jahren unterwegs im Berliner Regierungsviertel.
(Foto: picture alliance/dpa)
RAF-Verteidiger, Grünen-Mitbegründer, Kämpfer für Bürgerrechte, Fahrradfahrer - über Christian Ströbele, der nie aus Kalkül, sondern aus Überzeugung agierte und ohne Rücksicht auf Verluste.
"Ströbeles Fahrrad am Reichstag entwendet" lautet die eine Schlagzeile, die in Hans-Christian Ströbeles Ära als Bundestagsabgeordneter der Grünen mal zu einem wirklichen Skandal taugte. Im April 2005 war das und vom Berliner Boulevardblatt bis zur Deutschen Welle berichteten die Medien über diese unfassbare Frechheit: Vom wohl am besten bewachten Pflaster Deutschlands, unter den Augen von Landespolizei, Bundespolizei, LKA und BKA, hatte eine unbekannte Person das am Reichstag abgestellte Kettler-Alu-Rad des Grünen-Mitbegründers aus Kreuzberg gestohlen.
Dieses Gefährt, mit dem Ströbele zwischen seinem Zuhause, Büro und Reichstag hin- und herfuhr, mit dem er sich in seinem Wahlbezirk bewegte, an Demos teilnahm und das auf unzähligen Fotos mit ihm posierte - es war genauso wenig wegzudenken aus seinem Erscheinungsbild wie der rote Schal. Der Diebstahl - ein so ungeheuerlicher Vorgang, dass der Grüne beschloss, seine Prominenz als Politiker für einen persönlichen Zweck zu nutzen: Er bat auf seiner Homepage um "sachdienliche Hinweise", er benötige das Rad, "um mein Mandat gehörig ausüben zu können". Besondere Merkmale: selbst genähter brauner Sattelbezug, Hupe am Lenker, "Erststimme Ströbele"-Aufkleber.
Am Sonntag drauf war es wieder da
Vier Tage dauerte es, bis das Fahrrad wieder da war. Ein Berliner Fahrradladen hatte unter Kurieren Flyer mit einer Suchbeschreibung verteilt. Auf einem Flohmarkt, sonntags drauf, wurde man fündig. Ströbele pries die Finder und das Glück, das er gehabt hatte, noch nicht ahnend, dass die Geschichte eine überraschende Flanke des Grünen-Politikers öffnen würde, der seit Jahrzehnten so lautstark für Bürgerrechte eintrat: Ströbele hatte sich nämlich bei den Wachpolizisten vom Reichstag erkundigt, ob sie den Fahrraddiebstahl womöglich mit einer der dort installierten Überwachungskameras mitgeschnitten hätten.
Hatten sie nicht, aber Ströbeles Bereitschaft, im äußersten Notfall des Fahrradverlusts auf staatliche Überwachungsmechanismen zurückzugreifen, kam auf irgendeinem Weg der damaligen Kanzlerkandidatin der Union zu Ohren. 2005 wohlgemerkt, wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Für Angela Merkel muss es ein Fest gewesen sein, die Anekdote in ihren Wahlkampf einzubauen. Sie nutzte sie so weidlich, dass sich Ströbele noch 12 Jahre später im Interview mit dem Deutschlandfunk beschwerte, "nach dem Motto, da sieht man, wie die Grünen sind, nach dem Motto, wenn es ihr eigenes Fahrrad betrifft, dann nutzen sie auch die Videoüberwachung". Da sei er voll geständig.
Und diese eine Inkonsequenz zum eigenen Nutzen zuzugeben, das konnte sich Hans-Christian Ströbele ohne Weiteres leisten. Waren es doch eine ungeheure Gradlinigkeit und die Weigerung, gegen seine Überzeugung zu handeln, die dem Grünen der ersten Stunde bei politischen Freunden wie Gegnern Respekt verschafften. Was nicht hieß, dass man nicht auch sehr laut stöhnte, wenn der Fundamentalist, gerade in den Zeiten der rot-grünen Koalition zur Jahrtausendwende, mal wieder in die Debatte grätschte.
Das tat Ströbele ohne Rücksicht auf Verluste, auch wenn es den Verlust der Regierungsmacht bedeutet hätte. Als der Bundestag 2001 über den Antrag von Rot-Grün entschied, sich militärisch am Einsatz in Afghanistan zu beteiligen (das Wort "Krieg" nahm noch jahrelang niemand in den Mund), stimmte Ströbele dagegen. Im vollen Bewusstsein, dass die Mehrheit für das Mandat so knapp sein würde, dass jede Gegenstimme die eine zu viel sein könnte, die der Koalition den Hals brechen würde. Zwei Jahre zuvor hatte er vergeblich versucht, den Bundeswehreinsatz im Kosovo zu verhindern - das erste Auslandsmandat für die Truppe seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
"Ströbele wählen, Fischer quälen" - so ließ sich die Anti-Haltung zu Joschka Fischers Kurs als Außenminister zusammenfassen, es bot sich an, den Slogan gleich aufs Wahlplakat zu drucken. Dass Christian Ströbele viermal seinen Berliner Wahlkreis eroberte und - lange Zeit als bundesweit einziger Grüner - mit Direktmandat im Deutschen Bundestag saß, zeigte, dass bei allem Gestöhne der pragmatischen grünen "Realos" die kompromisslose "Fundi"-Haltung auch in der Wählerschaft noch eine Entsprechung hatte.
Drei Wochen saß Ströbele in U-Haft
Der häufig massive Gegenwind aus der eigenen Partei focht Ströbele nicht an. Da hatte er schon anderes erlebt: Aus bürgerlichem Elternhaus kommend engagierte er sich als Jura-Student bei den Protesten der 1968er. Als RAF-Anwalt verteidigte er in den Stammheim-Prozessen der Siebzigerjahre die Führungsriege der Terrorgruppe, Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin. Dass er die Terroristen als "Genossen" bezeichnete, kostete ihn die Mitgliedschaft in der SPD.
Das Gericht warf ihm Missbrauch des Mandats vor und schloss ihn vom Prozess aus. Drei Wochen saß Ströbele selbst in Untersuchungshaft, später wurde er wegen "Unterstützung einer kriminellen Vereinigung" zu zehn Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt.
Zum Ende der 1970er nutzte er seine juristische Erfahrung, um die linke Tageszeitung "Taz" mit aus der Taufe zu heben und auch die Grünen mitzugründen. In beiden Rollen mutete er sich und anderen immer wieder die Konfrontation zu und rückte Mitte der 1980er dank der damals noch geltenden Rotationsregel der Partei in den Bundestag nach. Im Jahr 2002 holte er erstmals sein Direktmandat und überzeugte die Wähler fortan und für die nächsten 15 Jahre mit der unbedingten Bereitschaft, sich für alles einzusetzen, was ihn überzeugte.

Hans-Christian Ströbele beim Bundesparteitag der Grünen 2017.
(Foto: picture alliance / Rainer Jensen/dpa)
Vom Abzug der Truppen aus Afghanistan über die Beschränkung der Befugnisse für den Bundesnachrichtendienst, den Schutz für den Whistleblower Edward Snowden, den er selbst in Moskau besuchte, bis hin zu Hanffreigabe oder dem Protestcamp am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg für bezahlbare Mieten - überall brachte Hans-Christian Ströbele seine Stimme ein und verlieh auch sperrigen und unpopulären Themen Gewicht. Folgerichtig wurde er Mitglied in den Untersuchungsausschüssen zum NSU und NSA.
"Als leidenschaftlicher und nahbarer Parlamentarier zeigte er den Menschen, dass aufrichtige und gradlinige Politik möglich ist", schrieb die Partei- und Fraktionsspitze der Grünen heute über Hans-Christian Ströbele. "Oft rang er mit uns und wir mit ihm, und doch war es immer klar, wo er hingehörte." 2017, schon von schwerer Krankheit gezeichnet, trat Ströbele nicht wieder zur Bundestagswahl an. Am Dienstag starb er zu Hause in Berlin.
Schon vor Jahren hat sich das Deutsche Historische Museum bei ihm gemeldet. Wenn er es irgendwann nicht mehr brauche - dann hätten sie gern sein Fahrrad.
Quelle: ntv.de