"Air Defender" über Deutschland "Die Bordkanone wäre mein allerletztes Mittel"
12.06.2023, 07:24 Uhr Artikel anhören
Auch F-35 als derzeit modernster Kampfjet weltweit nehmen an der "Air Defender"-Übung teil.
(Foto: IMAGO/CTK Photo)
Der Himmel über Deutschland ist ab heute Schauplatz der größten Luftabwehr-Übung der NATO-Geschichte. 250 Kampfflugzeuge und 10.000 Leute aus 25 Nationen trainieren zehn Tage lang unter deutschem Kommando. Wo die Jets fliegen, hat nicht mehr die Flugsicherung das Sagen, sondern es übernehmen "Airbosse" der Luftwaffe. Worauf es ankommt, erklärt Oberstleutnant Matthias Boehnke ntv.de.
ntv.de: Sie bezeichnen "Air Defender 2023" als "Superlativ-Übung". Dass das Auswirkungen auch auf den zivilen Luftverkehr haben wird, ist klar. Wie ist Ihre Prognose?
Matthias Boehnke: Die drei Lufträume, die wir reserviert haben, im Osten, Süden und Norden, werden wir niemals gleichzeitig aktivieren, sondern immer nur einen nach dem anderen. Wenn aber, als Beispiel, der Luftraum Ost von uns genutzt wird, muss ein ziviler Flieger von Frankfurt nach Stockholm außen herum fliegen. Seit Monaten stehen wir mit der Deutschen Flugsicherung und Eurocontrol in Verbindung und haben die Übung vielfach simuliert. Im letzten Stadium wurde errechnet, dass im Durchschnitt jeder Flug etwa fünf Minuten verspätet ans Ziel kommt. Mit Flugausfällen ist aus unserer Sicht nicht zu rechnen.
Viele der Luftkämpfe werden Sie in 20 Kilometern Höhe üben, also nicht vom Boden aus wahrzunehmen. Wird man in manchen Regionen aber auch etwas am Himmel sehen? Die Tiefflüge, die Ältere noch aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen?
An den Flugplätzen, von denen wir starten und landen, sind wir natürlich zu sehen, ebenso in den drei für uns reservierten Lufträumen, wenn wir Übungen in niedrigeren Höhen durchführen. Tiefflug üben wir hauptsächlich an den Truppenübungsplätzen, da kommt die Bevölkerung nicht hin.

Oberstleutnant Matthias Boehnke arbeitet im Presse- und Informationszentrum der Luftwaffe und ist Sprecher für die Übung "Air Defender 2023".
Es wird häufig der "defensive Charakter" der Übung betont. Ist das als Kategorie nicht überholt? Die Ukraine verteidigt sich und muss dafür derzeit die russischen Besetzer angreifen. So trennscharf lässt sich doch gar nicht sagen, was defensiv und was offensiv ist, oder?
Mit "defensiv" ist hauptsächlich gemeint, dass wir sagen: Wir üben das gesamte Spektrum von Luftoperationen, aber wir greifen niemanden proaktiv an, wir üben nicht, Aggressor zu sein. Zweck des NATO-Bündnisses ist es, sein Gebiet zu verteidigen, unsere Übung sendet kein aggressives Signal aus. Wir üben, dass wir im Falle eines Angriffs auf einen NATO-Staat diesen gemäß Artikel 5 gemeinsam verteidigen. So wie die Ukraine sich verteidigt.
Der Charakter der Operationen selbst ist letztlich universell?
Ob Sie nun defensiv oder offensiv schießen - vorne kommt eine Kugel raus. Es ist ein moralischer Unterschied, aber der ist für uns ganz entscheidend.
Die ukrainischen Offensivtruppen erleiden hohe Verluste, unter anderem weil die Luftnahunterstützung durch Kampfjets fehlt. Üben Sie das diese Woche?
Wir nennen das CAS - "Close Air Support", die Unterstützung und Absicherung von Bodentruppen im Gefecht, und das üben wir tatsächlich, nämlich an den Truppenübungsplätzen. Für CAS muss man in den Tiefflug gehen, die Jets kommen runter bis auf 330 Meter.
Wie konkret simulieren Sie das? Fahren dann auch Kampf- und Schützenpanzer auf dem Boden, steht da Artillerie bereit?
Dann wäre es eine richtige Joint-Übung, wo wir Heer, Luftwaffe und Marine zusammen trainieren würden. Das würden wir gern, da wollen wir in Zukunft auch hin. In diesem Fall arbeiten wir aber nur mit einem JTAC, einem "Joint Terminal Attack Controller". Er befindet sich nahe der Bodentruppen und muss die kreisenden Flugzeuge schnell abrufen, ihnen Ziele zuweisen und den Luftraum, etwa für Artilleriefeuer, ohne Verzögerungen wieder freimachen. Genau damit unterstützt der JTAC die Kampftruppe am Boden. Er markiert das Ziel per Laser - das macht er übrigens auch im echten Einsatz. So erkennt der Pilot von oben das Ziel und setzt die Waffe ein, um es zu bekämpfen. Sein Angriff wird ebenfalls per Laser simuliert, so können wir hinterher die Trefferquote auswerten.
Kampfjets können auch Lufträume gemeinsam "abriegeln". Wie üben Sie das?
Im übertragenen Sinne schiebt die Luftwaffe tatsächlich einen Riegel vor den Luftraum und sagt, "Du kommst hier nicht rein", und dazu reihen sich die Jets - vereinfacht gesagt - wie an einer Perlenkette auf. Allerdings fliegen die Maschinen heutzutage mit wesentlich mehr Abstand zueinander als früher.
Das erlaubt ihnen die größere Reichweite ihrer Waffen?
Genau, wenn zum Beispiel die amerikanischen F-35 hier üben, sprechen wir von Entfernungen zueinander über mehrere Kilometer. Wir üben also, eine kombinierte Luftoperation mit vielen Flugzeugtypen in der Luft zu koordinieren - da sind F-35 dabei, F-16, Eurofighter, Gripen, die ganz unterschiedliche Fähigkeiten haben.
Wie läuft das ab?
Dazu gibt es den "Airboss" am Boden, der ist, wenn Sie so wollen, eine Art Dirigent für die Operation. Er erhält einen Auftrag, zum Beispiel einen feindlichen Bunker zu zerstören. Der "Airboss" plant, was er dafür braucht: einen Bomber. Damit der Bomber weiß, wo er hinfliegen muss, braucht er die Aufklärung. Dazu elektronische Kampfmittel, die das gegnerische Radar unterdrücken, damit der Bomber nicht von Boden-Luft-Raketen abgeschossen wird. Begleitjäger flankieren ihn, die fremde Flugzeuge abhalten, damit er sicher ins Ziel kommt.
Kann er sich nicht selbst schützen?
In der Situation kann er das nicht. Ein Mehrzweckkampfflugzeug kann verschiedene Rollen einnehmen, aber nicht mehrere Rollen gleichzeitig. Das Ganze ist für den "Airboss" also ein großer Planungsprozess und der ist eigentlich sogar wichtiger als die Flugübung selbst. Darum ist die Auswertung hinterher ganz entscheidend.
Werten alle gemeinsam aus - vor der Videoleinwand, die hinterher die Übung zeigt?
So läuft es ab, wenn wir in Nevada am "Red Flag"-Manöver der NATO teilnehmen. Dann kommen tatsächlich alle in einem Raum zusammen. Bei "Air Defender" ist das für uns so nicht möglich, weil zum Beispiel die Schweden, die Dänen und die Niederländer die Übung von ihrer Heimat aus mitfliegen und abends wieder dorthin zurückkehren. Das fordert uns logistisch enorm heraus, denn wir mussten die geheimen Anlagen - denn eine solche Auswertung ist geheim - an die dortigen Flugplätze bringen, damit wir uns hinterher zusammenschalten können, ein gemeinsames Luftlagebild haben und zusammen auswerten können. Das ist aber genau der Trainingseffekt, den wir haben wollen: ein koordinierter Einsatz von Luftstreitkräften mehrerer Nationen - mit Sprachbarrieren, technischen Unterschieden, verschiedenen Standorten und so weiter.
Wie trainieren Sie Luftkampf?
In verteilten Rollen: "Red Air" sind die bösen Angreifer und "Blue Air" sind die Guten, die verteidigen. Am nächsten Tag wird gewechselt. Aber auch Luftkampf ist nicht mehr so, wie man es von früher kannte - aus Filmen wie "Maverick" oder "Top Gun", wo die Jets wild umeinanderfliegen. Diesen "dog fight", wie wir das nennen, den gibt es nicht mehr, das passiert alles aus kilometerweiter Entfernung. Wenn der gegnerische Flieger so nah käme, dass ich ihn sehen könnte, hätte er mich wohl schon abgeschossen. Die Bordkanone wäre mein wirklich allerletztes Mittel.
Wenn Sie sagen, die ganze Übung steht unter deutscher Führung, hört dann auch jeder Einzelne auf deutsches Kommando?
So ist es. Diese "Airbosse" zum Beispiel, die ich eben erwähnte, die ihre jeweiligen Luftoperationen verantworten, sind alles Deutsche. Die gesamte Übung wird in einem deutschen Gefechtsstand geführt.
Sie haben sich zwei Jahre Zeit genommen, um diese Übung vorzubereiten, die einen Artikel-5-Bündnisfall der NATO simuliert. Im Ernstfall hätten Sie vermutlich überhaupt keine Zeit zum Vorbereiten. Wie aussagekräftig ist die Übung dann noch?
Die Planung liegt hauptsächlich in Dingen, die man in Friedenszeiten beachten muss, die ich in einem Ernstfall nicht mehr beachten würde. Zum Beispiel die Beantragung der reservierten Lufträume, die Abstimmung mit den Flugsicherungsbehörden. Also im Ernstfall würden wir fliegen, ob uns da nun ein Ziviler in die Quere kommt oder nicht. Im Ernstfall würde ich auch nicht ein Containerdorf für die US-Soldaten aufbauen. Das sind alles zweitrangige Aspekte. Im Ernstfall würde es darum gehen, die Piloten möglichst schnell in ihre Maschinen zu bekommen, die Bewaffnung dranzukriegen, zu betanken und in die Luft zu steigen.
Bei aller Vorbereitung: Wie viel Überraschung ist für die Piloten noch drin in der Übung?
Die "Airbosse" haben sich schon vor Wochen überlegt, was sie üben wollen. Diese Aufgaben geben sie aber erst zwei Tage vorher raus. Und zwei Tage sind realistisch, auch für den Ernstfall. Wenn ich bei meinem Beispiel von eben bleibe: Der Auftrag, den gegnerischen Bunker zu zerstören, kommt rein. Dann plant man auch real die Operation mit ein bis zwei Tagen Vorlauf.
Während des Kalten Krieges hatten einige NATO-Partner Jets in Deutschland stationiert. Jetzt reisen sie alle aus der Ferne an, aus 24 Ländern. Geht es am Ende vor allem darum, zu zeigen, dass die NATO in dieser Form zusammensteht? Als Signal vor allem nach Russland?
Absolut soll dieses Signal der Geschlossenheit gesendet werden. Das allerwichtigste Zeichen der Übung ist aber die transatlantische Verbindung zu den USA. Wir zeigen: Wenn es drauf ankommt, können wir schnell verlegen und in einer Krise reagieren. Die Amerikaner machen nun mal immer noch den Unterschied.
Mit Matthias Boehnke sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de