Erst Vorteil, jetzt Nachteil Die Krim ist vielleicht Russlands größtes Problem
11.06.2024, 15:59 Uhr Artikel anhören
Dieses Satellitenbild zeigt zerstörte MiG31-Kampfflugzeuge und ein kaputtes Treibstofflager nach einem Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Belbek auf der Krim.
(Foto: via REUTERS)
Fast zweieinhalb Jahre nach Beginn des Kriegs wird die seit 2014 illegal annektierte Krim für Russland zu einer Belastung. Die Ukrainer setzen ATACMS-Raketen gegen Stützpunkte auf der Halbinsel ein. Russland hat deshalb schon eine Ersatz-Eisenbahnstrecke für den Nachschub aufgebaut.
Für den Kreml ist die Krim, seit es die Brücke über die Straße von Kertsch zum russischen Festland gibt, eine Art unsinkbarer Flugzeugträger. Sie ist das perfekte militärische und logistische Drehkreuz, um die Ukraine anzugreifen - zumindest in der Theorie. Der russische Staatschef Wladimir Putin hat die annektierte Halbinsel in den vergangenen zehn Jahren militärisch hochgerüstet. Sie ist gleichzeitig Luftwaffenstützpunkt und Ankerpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Von hier aus kann Russland Druck auf den Süden der Ukraine ausüben, neue Soldaten an die Front verlegen und das Schwarze Meer kontrollieren.
Eigentlich, denn während die Ukraine im Osten des Landes unter Dauerbeschuss der russischen Armee steht, wird die Krim gerade von einem strategischen Vorteil immer mehr zum Problem für Russland. Die ukrainische Armee sei derzeit dabei, die Halbinsel "unbewohnbar" zu machen, sagt etwa der ehemalige amerikanische General und NATO-Berater Ben Hodges. Die Ukrainer setzten momentan auf eine "tödliche Kombination aus Raketen und immer raffinierteren Drohnen", um die russische Luftabwehr auf der Krim systematisch zu zerstören, schreibt der britische "Economist".
Die Ukrainer haben zuletzt unter anderem den Luftwaffenstützpunkt Belbek getroffen, in der Nähe von Sewastopol, der größten Stadt auf der Krim. Auch das Gebiet rund um die Krim-Hauptstadt Simferopol ist zuletzt mehrfach getroffen worden. Genauso wurde der Flughafen Dschankoj im Norden der Krim mehrmals attackiert, dort sind Flugabwehrkräfte und ein Hubschrauberregiment stationiert. Mit den ATACMS haben die Ukrainer Ende Mai auch zwei russische Patrouillenboote und zwei militärische Transportfähren in der Nähe der Krim-Brücke zerstört, die 2018 eröffnet wurde, um die Krim mit dem russischen Festland zu verbinden.
Schwarzmeerflotte vertrieben oder zerstört
Bei den Angriffen helfen vorrangig die von den USA gelieferten ATACMS-Raketen mit ihrer großen Reichweite. Die Ukraine hat dadurch bessere Angriffsmöglichkeiten als in den Wochen zuvor.
Erfolgreich waren auch etliche Angriffe gegen die russische Schwarzmeerflotte, die in den Krim-Häfen stationiert ist. Laut den Berichten verschiedener Militäranalysten ist mittlerweile etwa die Hälfte der Flotte von ukrainischen Raketen und Drohnen zerstört worden. Die noch funktionstüchtigen Kriegsschiffe wurden über 300 Kilometer entfernt in den Hafen von Noworossijsk auf dem russischen Festland verlegt. Aber auch diese Stadt in der Region Krasnodar wurde vor wenigen Wochen zum Ziel der Ukrainer, die dort den Marinestützpunkt, ein Kraftwerk und einen Bahnhof getroffen haben.
Die Russen haben große Probleme, ATACMS-Angriffe abzuwehren: "Das Luftabwehrsystem S-400 hat sich als unzureichend erwiesen", analysiert der "Economist". Die Ukrainer verwirren das teure und hoch gepriesene System, indem sie mit Drohnen die russischen Radare aufleuchten lassen. Sobald das passiert, werden umgehend die Zieldaten der Radarsysteme an die ukrainischen Truppen gesendet, die die ATACMS bedienen. Sechs Minuten, nachdem die Raketen losgeschickt werden, treffen sie ihre Ziele.
Ukraine hat auf der Krim die besten Chancen
Die Krim sei mittlerweile zur Achillesferse der Russen in diesem Krieg geworden, schreibt der deutsche Militärexperte Nico Lange auf der Plattform X. Hier habe die Ukraine die besten Chancen, Druck auf Putin auszuüben. "Die Ukraine kann entlang der Frontlinien derzeit nur verzögern. Gleichzeitig hält sie aber den Druck auf die Krim aufrecht und schlägt in die russische Tiefe."
"Die Ukraine versucht derzeit, das Leben auf der Krim zu erschweren, Unsicherheiten zu schaffen und militärische Einrichtungen gezielt zu zerstören", analysiert Christian Mölling, stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), im Stern-Podcast "Die Lage International". Die Ukrainer wollen "mindestens erreichen, dass Russland seine Kräfte anders verteilen muss."
Schmerzhaft sind die Angriffe speziell für Wladimir Putin deshalb, weil die Krim seit dem 18. Jahrhundert, als Katharina die Große die Halbinsel erobern ließ, eine riesige symbolische Bedeutung für Russland hat. Putin werde auf der Krim gezeigt, "dass Russland nicht unantastbar ist", erklärt Militärexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo bei ntv. "Natürlich hat das auch eine gewisse Moralwirkung für die Verteidiger."
Krim-Brücke "dem Untergang geweiht"?
Für den früheren NATO-General Ben Hodges ist sogar vorstellbar, dass die Ukrainer eines Tages die Krim-Brücke zerstören. Dann hätten die Russen deutlich mehr Probleme, Nachschub in den Süden der Ukraine zu bringen, weil die Krim vom russischen Festland abgeschnitten wäre.
Ein Indiz, dass Moskau diese Gefahr selbst erkannt hat, ist eine neue Eisenbahnstrecke. Die baut Russland gerade in den besetzten Gebieten der Ostukraine. Sie beginnt bei Rostow am Don in Russland, läuft dann am Asowschen Meer entlang, durch die besetzten ukrainischen Städte Mariupol und Berdjansk bis zur Krim. Ein Teil der Strecke wird seit Anfang Mai bereits von Zügen befahren, berichtet das Portal Frontelligence Insight. Russland könne mithilfe der neuen Strecke die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch umgehen. Die neue Bahnstrecke sei ein "Eingeständnis der russischen Besatzer, dass die Brücke über die Krim dem Untergang geweiht ist", zitiert der "Economist" einen Sprecher des ukrainischen Militärs.
Wie schlecht es um die Zukunft der Krim aus russischer Sicht bestellt ist, wird sich auch im Laufe dieses Sommers zeigen. Die Halbinsel am Schwarzen Meer war ein beliebtes Urlaubsziel von russischen Touristen. Seit dem Krieg sind die Buchungszahlen deutlich eingebrochen. Ben Barry von der britischen Denkfabrik "International Institute for Strategic Studies" bringt es im "Economist" auf den Punkt: "Die Krim hat sich vom Prestigeprojekt zu einer Belastung für die russischen Ressourcen entwickelt."
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de