Politik

Reisners Blick auf die Front "Die Ukrainer waren für die Russen unsichtbar"

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Bei Nacht und Nebel gelingt es der Ukraine, mehrere Brückenköpfe am südlichen Ufer des Dnipro zu errichten. Der Erfolg ist laut Oberst Markus Reisner von höchster Bedeutung - und für die Russen ein Dilemma. Damit zeige die Ukraine, "dass sie sehr wohl in der Lage ist, das Momentum für sich zurückzugewinnen", so der Militärexperte im Interview. Für einen Vorstoß Richtung Süden seien die Brückenköpfe aber noch nicht belastbar genug.

ntv.de: Herr Reisner, die Woche fängt mit einer positiven Nachricht für die Ukraine an: Es ist ihnen gelungen, am linken Ufer des Dnipro mehrere Brückenköpfe zu errichten und Hunderte Soldaten an das andere Ufer zu bringen. Wie haben sie das gemacht?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: Die Ukraine hat es taktisch sehr intelligent geschafft, das elektromagnetische Feld zu beherrschen. Das ist jenes Feld, wo über Funksignale Drohnen gesteuert werden, wo die Verbindungen zu den Gefechtsständen laufen und die Feueraufträge der Artillerie abgerufen werden. Die Ukraine hat entlang des Flussufers nördlich von Cherson einige Kräfte zusammengezogen und versucht, sogenannte lokale Blasen zu bilden, unter denen die Streitkräfte operiert haben.

Was sind lokale Blasen?

Lokale Blasen heißt, dass es dort durch den von den Ukrainern beherrschten elektromagnetischen Raum den Russen unmöglich oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, ihre Drohnen für die Aufklärung einzusetzen. Das bedeutet, dass sie keine Ziele für ihren Artilleriebeschuss oder für den Einsatz von Luft-Boden-Waffen bestimmen können, die sie immer wieder abwerfen. Unter dem Schutz dieser lokalen Blasen ist es den Ukrainern gelungen, ihre Kräfte zu konsolidieren, sie zu massieren und in einem nächsten Schritt einen Brückenkopf auszudehnen und diese Brückenköpfe miteinander zu verbinden. Aber auch das Wetter hat eine begünstigende Rolle gespielt.

Inwiefern?

Ein Teil der nassen Witterung in der Region derzeit ist, dass es in der Früh sehr oft neblig ist. Im Schutz des Nebels und des von mir angesprochenen gesicherten elektromagnetischen Raums konnten die Ukrainer mit Booten ans südliche Ufer übersetzen: Die Ukrainer waren für die Russen unsichtbar. Das hat sich in den letzten zwei Wochen sukzessiv immer mehr erhöht, bis die Ukraine es sogar geschafft hat, einzelne gepanzerte Fahrzeuge auf die andere Seite zu bringen. Das Problem ist aber, dass die Brückenköpfe noch immer nicht wirklich belastbar sind.

Was bedeutet das?

Wenn die Ukraine von dort aus eine Operation durchführen will, dann müssen diese Brückenköpfe ausgebaut und gesichert, also gefestigt werden. Dann brauchen sie Pontonbrücken, um wirklich schweres Gerät auf die Südseite zu bringen, um tatsächlich aus einem taktischen Erfolg in einen operativen Erfolg überzugehen.

Wie viele Brückenköpfe hat die Ukraine jetzt insgesamt errichtet?

Da gibt es unterschiedliche Quellen. Aber mindestens drei, von denen einer wirklich signifikant ist. Das ist der Brückenkopf bei Krynky, dessen Ausdehnung relativ umfangreich ist.

Laut dem ukrainischen Militär haben sie die Russen bereits drei bis acht Kilometer vom Fluss weggedrängt. Das klingt nach sehr viel, wenn man bedenkt, wie es an anderen Frontabschnitten meist nur wenige Hundert Meter vorangeht.

Acht Kilometer lassen sich im Moment noch nicht bestätigen. Sicher bestätigen lässt sich nur, was man tatsächlich auch auf Filmaufnahmen erkennen kann. Das heißt, es braucht Videos von mehreren Seiten, auf denen man sehen kann, dass ukrainische Soldaten sich in einem Dorf, einer Brücke oder Eisenbahnlinie befinden, damit man sagen kann, dass sie diesen Raum in Besitz genommen haben. Bis jetzt haben sie es im Bereich von Krynky und bei Datschi geschafft, in das Überschwemmungsgebiet vorzurücken und sich auch festgesetzt. Es gibt aber noch keinen Durchbruch aus diesem Überschwemmungsgebiet heraus Richtung Süden. Bei Krynky wäre das dann der Fall, wenn es der Ukraine gelingen würde, nicht nur die Ortschaft Richtung Süden einzunehmen, sondern auch das ausgedehnte Waldgebiet dahinter zu erreichen.

Russland soll bei dem Vorstoß am Dnipro bis zu 3500 Soldaten verloren haben, 1200 davon sind ukrainischen Angaben zufolge gefallen. Stimmen diese Angaben, und wenn ja, warum sind die Verluste bei den Russen so hoch?

Da muss man vorsichtig sein. Beide Seiten geben horrende Verluste für die Gegenseite an. Auch hier kann man nur durch den Trend, der sich aus der Beobachtung vieler verschiedener Videos erkennen lässt, beurteilen, ob es hohe Verluste gibt oder nicht. Ein Beispiel: In Awdijiwka gab es Mitte Oktober mehrere sehr verlustreiche Vorstöße der Russen. Das konnte man erkennen, weil man auf Videos von ukrainischen Drohnen gesehen hat, dass Dutzende Fahrzeuge zerstört und Dutzende Soldaten getötet worden sind. Das war ein Indikator für hohe Verluste. Natürlich kann man das nicht exakt beziffern, weil beide Seiten versuchen, die Angaben über eigene Verluste geringzuhalten und die dem Gegner zugefügten hochzuhalten.

Und diese Videos gibt es vom Südufer des Dnipro nicht?

Es gibt zwar Dutzende Videos von ukrainischen Drohnen entlang des Dnipro, von Cherson Richtung Osten, die tatsächlich auch russische Stellungen angreifen. Im Gegensatz zu Awdijiwka gibt es aber keine so umfangreichen Angriffe aus der Ukraine, die auch zu hohen Verlusten auf der russischen Seite geführt hätten. Diese Verlustzahlen sind deshalb mit Vorsicht zu genießen. Die russischen Einheiten vor Ort halten zudem nach wie vor ihre Stellungen.

Trotzdem sind die Überquerungen an dem bis vor Kurzem noch vollständig besetzten linken Ufer ein dringend benötigter Erfolg in der stockenden Offensive. Welche Bedeutung hat der Vorstoß für die Ukraine und welche Folgen für die Russen?

Diese Operation ist für die Ukraine sehr wichtig, weil sie es damit geschafft hat, im Informationsraum wieder Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie lenkt davon ab, dass die Ukrainer momentan vor allem im Osten stark unter Druck stehen. Es geht vor allem darum, dass die Ukraine nicht aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit verschwinden darf und dass es in den Augen der Verbündeten Sinn macht, Kiew weiter zu unterstützen. Gerade in den letzten zwei Wochen gab es - vor allem im englischsprachigen Raum - viele Medienberichte, die sehr kritisch hinterfragt haben, wie es weitergeht und dass die Ukraine ehrlich sein muss über die Offensive. Durch diese Erfolge zeigt die Ukraine, dass sie sehr wohl in der Lage ist, das Momentum für sich zurückzugewinnen. Man muss natürlich jetzt abwarten, ob es tatsächlich gelingt, diesen Erfolg auszuweiten.

Und für die Russen?

Russland hat das Dilemma, dass die Dominanz im Informationsraum wieder auf Seiten der Ukraine gefallen ist.

Wie sieht es am Rest der Front aus, befinden sich beide Seiten dort nach wie vor in einer Pattsituation?

Bei Awdijiwka ist es noch immer so, dass die russische Seite langsam aber stetig vormarschiert. Das sieht man vor allem nordwestlich der Ortschaft, wo es ihnen gelingt, entlang der Eisenbahnstrecke vorzustoßen und diese auch überschritten worden ist. Es gibt sehr heftige Kämpfe im Industriegebiet im Nordwesten und auch am Südrand, wo die Russen ebenfalls auf dem Vormarsch sind. An anderen Stellen der Front ist es unverändert: Zwischen Kupjansk und Swatowe herrscht großer Druck von russischer auf die ukrainische Seite. Es gibt wechselhafte Kämpfe im Zentralraum bei Robotyne, wo die Ukraine am Sonntag einen weiteren Vorstoß versucht hat, der aber abgeschlagen worden ist. Der größte Erfolg, den die Ukraine momentan hat, ist der entlang des Dnipro.

Dieser dient, wie Sie selbst sagen, vor allem dem Ziel, dass der Westen die Ukraine weiterhin unterstützt. Die EU will der Ukraine bis März eine Million Schuss Munition liefern. Ist das Ihrer Meinung nach genug?

Ich denke, da muss man noch mal ganz kritisch die Frage stellen, ob nicht eigentlich vereinbart war, das bis Ende des Jahres zu tun. Der Umstand, dass sich das jetzt bis in den März verzögert hat, bedeutet eigentlich, dass man die Versprechungen nicht einhalten kann. Man nimmt zudem an, dass bis Ende des Jahres nur circa 300.000 Stück Munition geliefert werden können. Das ist nur ein Drittel von dem, was eigentlich versprochen worden ist.

Was bräuchte die Ukraine Ihrer Meinung nach, um zum einen gut über den Winter zu kommen und keine Gebiete an Russland zu verlieren und sich zum anderen auf eine Offensive im Frühjahr vorzubereiten?

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Die Ukraine nähert sich jetzt langsam einem Kulminationspunkt an und dieser wird entschieden über die Unterstützung des Westens für die Ukraine. Wenn der Westen möchte, dass die Ukraine weiter in der Lage ist, die Angriffe der Russen abzuwehren oder gar Gebiete zurückzuerobern, dann muss der Westen das Land mehr als bisher unterstützen - und zwar signifikant. Nicht nur mit Artillerie, sondern auch mit einer Reihe von anderen Waffensystemen. Wenn das nicht der Fall ist und der Westen dazu nicht bereit ist, dann wird die Ukraine gezwungen sein, ihre Ziele kürzer zu stecken. Vermutlich wird dann das Ziel der Ukraine sein, sich über den Winter zu konsolidieren, damit sie in der Lage ist, im Frühjahr neue Aktionen durchzuführen. Alles steht und fällt mit der Unterstützung des Westens.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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