Homosexuelle in Tschetschenien "Die Wahl zwischen Lügen und Sterben"
23.04.2017, 13:35 Uhr
Tschetschenischen Sicherheitskräften werden schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen.
(Foto: AP)
Weil ihnen sowohl die eigenen Familien als auch die Sicherheitskräfte von Gewaltherrscher Kadyrow nach dem Leben trachten, fliehen Homosexuelle aus Tschetschenien. Doch auch Tausende Kilometer entfernt fürchten sie um ihr Leben.
Seit seiner überstürzten Flucht aus Tschetschenien hat Ilja kaum geschlafen. In seiner Heimat wurde der Homosexuelle im Herbst von Militärangehörigen verschleppt und misshandelt, aus Angst um sein Leben floh er aus der russischen Kaukasusrepublik nach Moskau. "In Tschetschenien hatte ich die Wahl zwischen Lügen und Sterben", sagt der 20-Jährige.
Nun versteckt er sich zusammen mit fünf anderen Tschetschenen in einem kleinen Backsteinhaus außerhalb der russischen Hauptstadt. Aus Angst vor Verfolgung wollen alle anonym bleiben: "Wenn einer meiner Verwandten erfährt, dass ich homosexuell bin, wird er nicht eine Sekunde zögern, mich zu töten", sagt ein Mann namens Nortscho. "Und wenn sie es nicht tun, werden sie selbst umgebracht, weil sie die Familienehre nicht wiederhergestellt haben."
Auch in Russland werden Schwule oft angefeindet, doch insbesondere im konservativen, muslimischen Tschetschenien gilt Homosexualität noch immer als Verbrechen, das manche Familien sogar mit sogenannten Ehrenmorden ahnden. Bereits seit Jahren gibt es Berichte über Misshandlungen und Entführungen von Homosexuellen durch die Milizen von Präsident Ramsan Kadyrow.
Kadyrow-Sprecher: Es gibt keine Homosexuellen in Tschetschenien
Vor einigen Wochen berichtete die unabhängige Zeitung "Nowaja Gaseta", Homosexuelle würden inzwischen auch von den Behörden verfolgt: Seit Februar wurden demnach mehr als 100 Homosexuelle festgenommen, ihre Familien zu "Ehrenmorden" gedrängt - Informationen, die von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bestätigt werden. Mindestens drei Menschen seien bisher von ihren eigenen Familien getötet worden oder durch Misshandlungen gestorben.
Kadyrow dementierte gegenüber Russlands Staatschef Wladimir Putin jegliche Übergriffe auf Homosexuelle. Sein Sprecher behauptete, in Tschetschenien gebe es gar keine Schwulen. Putin selbst gab keinen Kommentar ab, sein Sprecher Dmitri Peskow sagte, eine Untersuchung sei eingeleitet worden, doch bislang seien die Vorwürfe "nicht bestätigt".
Im Ausland sorgten die Berichte für Empörung, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, äußerte sich "beunruhigt". In Stockholm bestellte das schwedische Außenministerium nach Angaben einer Sprecherin den russischen Botschafter Viktor Tatarinzew ein, wegen "alarmierender Informationen, wonach Homosexuelle in Tschetschenien inhaftiert und gefoltert wurden".
In Moskau unterstützt die Homosexuellen-Vereinigung LGBT-Liga die geflohenen Tschetschenen. Sie erhalte "drei bis vier Hilferufe täglich", sagt die Leiterin des Moskauer Büros, Olga Baranowa. Insgesamt seien bereits fast 20 Gefährdete nach Moskau geschleust worden.
"Tyrannie" mit Segen des Kreml
Obwohl er mehr als 1800 Kilometer von Grosny entfernt ist, fürchtet Ilja jedes Mal das Schlimmste, wenn sich ein Auto nähert. "Die LGBT-Liga hat mir eine Galgenfrist verschafft, aber letztlich werden sie mich finden", sagt er leise. Über sein Gesicht zieht sich eine riesige Narbe.
Im Oktober sei er entführt und auf einem Feld von drei Männern in Militäruniform geschlagen worden. "Sie haben alles gefilmt und sagten, das komme in die sozialen Netzwerke, wenn ich nicht 200.000 Rubel (3350 Euro) zahle. Ich habe mich verschuldet und bezahlt." Danach floh er nach Moskau. Später seien Soldaten zu meiner Mutter gekommen und hätten ihr erzählt, dass ihr Sohn schwul sein. "Ich habe entsetzliche Angst."
Seinen Mitbewohner Z. lässt die Angst, seine Frau und sein Kind könnten von seiner Homosexualität erfahren, keine Ruhe. Im März wurde er eine Woche lang in einem inoffiziellen Gefängnis festgehalten: "Dort waren andere Schwule in der Zelle, manche waren geschlagen worden", erinnert er sich.
Die "Nowaja Gaseta"-Journalistin Irina Gordjenko erhielt inzwischen Todesdrohungen vom tschetschenischen Großmufti. Kadyrow übe mit stillschweigender Übereinkunft des Kreml eine "absolute Tyrannei" aus, klagt sie. "Hier liegt der Kern des Problems: Die Straffreiheit der tschetschenischen Behörden."
Quelle: ntv.de, Anaïs Llobet, AFP