Politik

Destruktiver Kult Die jüdische Sekte "Lev Tahor"

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Lev-Tahor-Mitglieder in Ontario (Archivbild von 2014).

Lev-Tahor-Mitglieder in Ontario (Archivbild von 2014).

(Foto: AP)

Wegen ihrer Kleidungsvorschriften wird die Sekte Lev Tahor auch "jüdische Taliban" genannt. Doch aufgrund der Vorwürfe des Kindesmissbrauchs wird international gegen sie ermittelt.

Die meisten ultraorthodoxe Juden genießen in Israel einen Sonderstatus. Obwohl einige der sogenannten Haredim, der "Gottesfürchtigen", den Staat ablehnen, weil sie die Gründung Israels vor 75 Jahren als Sünde ansehen, da diese erst mit der Ankunft des Messias erfolgen dürfe, unterstützt die israelische Regierung die Ultraorthodoxen jährlich mit viel Geld. Denn viele der erwachsenen Männer unter ihnen arbeiten nicht, sondern widmen sich religiösen Studien.

Es gibt allerdings auch radikale Strömungen, die die israelische Regierung als verboten oder wenigstens gefährlich einstuft - darunter die radikal-jüdische Sekte Lev Tahor, "reines Herz", die hauptsächlich im Ausland beheimatet ist, aber auch in Israel verstärkt Zulauf erhält.

"Sie leben in ihrer eigenen Welt", sagt Shai Gottlieb aus Tel Aviv, ein ehemaliges Mitglied der Gruppe. "Seit meinem religiösen Ausstieg vor einem Jahr begann ich ein neues Leben. Meine Familie ist ultraorthodox und hat den Kontakt zu mir abgebrochen." Soziale Einrichtungen halfen dem jetzt 18-Jährigen, der mittlerweile seinen Wehrdienst bei der israelischen Marine leistet. Der junge Matrose stammt aus einer Jerusalemer Haredi-Familie. Als kurz nach seiner Geburt sein Vater von einem Lev-Tahor-Mitglied überzeugt wurde, sich der Bewegung anzuschließen, wanderte die Familie nach Ontario in Kanada aus, wo sich damals eine Gruppe von Mitgliedern der Sekte ansiedelte.

Frauen in der Sekte müssen eine Art Burka tragen - hier in Jerusalem.

Frauen in der Sekte müssen eine Art Burka tragen - hier in Jerusalem.

(Foto: Tal Leder)

"Je älter ich wurde, desto nachdenklicher machten mich viele Gebote und Verbote", erzählt Gottlieb. "Irgendwann hielt ich den systematischen Missbrauch und die Demütigungen unter dem Vorwand religiöser Überzeugungen nicht mehr aus." Nachdem er als 16-Jähriger seine 13-jährige Cousine heiraten sollte, entschied er sich zur Flucht. "Sie drohten mir mit Strafen, sollte ich mich weigern, erklärt er. "Ich wollte frei und unabhängig sein."

Anführer ertrank in Mexiko

Lev Tahor wurde 1988 von Rabbiner Shlomo Helbrans gegründet, der selber aus einer säkularen Jerusalemer Familie stammte und seinen Mitgliedern neben einem gottgefälligen Leben auch den jüdischen Anti-Zionismus predigte, also die Ablehnung des jüdischen Staats. Als er in den 1990er-Jahren mit seinen Anhängern nach Williamsburg, einen Stadtteil von New York, auswanderte, stellte er noch radikalere Regeln auf, als in der ultraorthodoxen Welt ohnehin gelten: noch lautere und längere Gebete, noch strengere Vorgaben für koscheres Essen und genau definierte Rollen für die Frauen, die ab dem dritten Lebensjahr ein Burka-ähnliches schwarzes Gewand tragen müssen. Männer bekleiden sich mit braunen Gewändern und Kapuzen, dazu tragen sie große schwarze Hüte. Die auch als "jüdische Taliban" bekannte Gruppe verheiratet ihre Mädchen oft schon als Minderjährige mit älteren Männern. Drakonisch wie bei islamischen Fundamentalisten werden Verstöße mit schweren Strafen, einschließlich Schlägen und Peitschenhieben, geahndet. Helbrans kontrollierte seine Mitglieder auch mit Drogen.

"Der Sektenführer wurde schon 1994 in New York wegen Kindesentführung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und dann nach Israel abgeschoben", sagt Danny Limor, ehemaliger Mitarbeiter des israelischen Geheimdienst Mossad. "Nach seiner Entlassung lebte er als Flüchtling in Kanada. Auf mysteriöse Weise starb er 2017 während eines rituellen Bads in einem Fluss in Mexiko." Nachfolger wurde sein Sohn Nahum Helbrans. Dessen erste Amtshandlung war ein Asylantrag an den Iran. Überhaupt ist das nomadenhafte Leben der Sekte ein interessanter Aspekt. Obwohl sie rund 350 Anhänger zählt, war sie bereits in Guatemala, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Rumänien und Nordmazedonien präsent. Dies scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass die Gruppe immer weiterzieht, wenn die örtlichen Behörden von ihren Aktivitäten erfahren. In Nord- und Mittelamerika wird gegen sie wegen Gehirnwäsche sowie körperlichen und sexuellen Missbrauchs gegen Minderjährige ermittelt. Dies führte 2022 zu einer erfolgreichen Operation gegen die Sekte, bei der mehrere Kinder, die man gegen ihren Willen festhielt, befreit wurden. Ehemalige Mossad-Mitarbeiter meldeten sich freiwillig, um eine gemeinsame Aktion mit den mexikanischen Behörden durchzuführen.

"Während der Razzia wurden 26 Mitglieder der Sekte festgenommen, darunter auch ihr Anführer", erzählt Limor. "Wir verfolgen sie, seit wir ihren Standort in Guatemala identifiziert haben. Unsere Logistik half der lokalen Polizei, professionell vorgehen."

Kontrolle durch Degradierung

"Lev Tahor ist eine totalitäre Institution", sagt Gabriel Cavaglion, Professor für Soziologie an der Fachhochschule im israelischen Aschkelon. "Ihr Gruppenführer hat als höchste Autorität die Macht, jede Form von persönlicher Identität zu beseitigen. Das Ritual von Zuckerbrot und Peitsche ist eine Degradierungszeremonie, um den Einzelnen zu kontrollieren." Der Experte erforscht die Gruppe schon lange. Er versteht sie als Sekte, deren Glaubensfragen nicht diskursfähig sind. "Die Definition destruktiver Kulte trifft bei Lev Tahor zu", erzählt Cavaglion. "Denn sie schaffen und pflegen eine neue Subkultur mit eigenwilligen Paradoxien."

Bei zahlreichen Razzien in einigen Ländern wurden weitere Mitglieder verhaftet. Dabei wurden viele Kinder befreit, die in sozialen Einrichtungen Hilfe erhalten. "Es ist noch nicht vorbei", sagt Shai Gottlieb, ehemaliges Mitglied von Lev Tahor. "In Guatemala und an anderen Orten haben sie weitere Zweige. Aber der Sekte mangelt es jetzt an Führung."

Der 18-Jährige sieht die Gruppe als Häretiker, die sich eine extreme Form von Judentum geschaffen hat. Von den Anführern der ultraorthodoxen Juden in Israel fordert er deren Exkommunizierung. "Der Sekte geht es um Macht und geistige Kontrolle von Menschen", so Gottlieb. "Durch meinen Ausstieg habe ich das Judentum aber nicht verlassen. Ich lebe es in einer modernen Form, denn das Spirituelle an meiner Religion fasziniert mich mehr als die Dogmen irgendwelcher selbsternannter Rabbiner."

Quelle: ntv.de

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