Politik

Interview mit Daniel Köhler "Diese Menschen suchen Halt in Verschwörungserzählungen"

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Die Reichsbürger-Szene ist nicht nur in Süddeutschland aktiv. Reichsflaggen werden im Oktober 2023 auf dem Domplatz in Magdeburg zur Reichsbürgerkundgebung hochgehalten.

Die Reichsbürger-Szene ist nicht nur in Süddeutschland aktiv. Reichsflaggen werden im Oktober 2023 auf dem Domplatz in Magdeburg zur Reichsbürgerkundgebung hochgehalten.

(Foto: Heiko Rebsch/dpa)

Am Mittwoch ist der Reichsbürger Ingo Kramer zu 14,5 Jahren Haft verurteilt worden: Wegen mehrfachen versuchten Mordes und illegalen Waffenbesitzes. Es ist eines der härtesten Urteile, die bislang gegen ein Mitglied der Szene ergangen sind. Im April 2022 hatte Kramer aus einem Hof im schwäbischen Boxberg auf 14 SEK-Beamte geschossen. Später wurde ein ganzes Waffenlager in seiner Wohnung gefunden - mit Maschinengewehr, Kalaschnikow, Uzi, bis hin zu vollautomatischen Waffen und einem G3-Gewehr, wie es die Bundeswehr verwendet. Daniel Köhler arbeitet für konex, dem Kompetenzzentrum gegen Extremismus der baden-württembergischen Landesregierung. Er ist einer der besten Kenner der Reichsbürger-Szene im Südwesten.

ntv.de: Gerade in Baden-Württemberg kommt es immer wieder zu gewalttätigen Vorfällen in der Reichsbürger-Szene. Ingo Kramer hatte vor anderthalb Jahren auf ein SEK-Kommando gefeuert, vor wenigen Monaten wurde in Reutlingen ein Polizist angeschossen. Wie gefährlich ist das Reichsbürger-Milieu?

Daniel Köhler: Grundsätzlich ist bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern mit Gewalt zu rechnen, wenn sie mit staatlichen Behörden, mit Sicherheitsbehörden in Kontakt kommen. Allerdings ist das Gewaltthema in der Szene sehr umstritten. Insgesamt rechnen wir der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter bundesweit etwa 23.000 Personen zu, davon 3800 in Baden-Württemberg. Von denen werden grob zehn Prozent als gewaltbereit eingeschätzt, macht für Baden-Württemberg 380 Personen.

Seit 2016 arbeitet Daniel Köhler für das Innenministerium in Baden-Württemberg als wissenschaftlicher Referent im Kompetenzzentrum gegen Extremismus.

Seit 2016 arbeitet Daniel Köhler für das Innenministerium in Baden-Württemberg als wissenschaftlicher Referent im Kompetenzzentrum gegen Extremismus.

(Foto: ntv)

Zehn Prozent Reichsbürger, die in Baden-Württemberg auch zur Waffe greifen würden, das ist nicht wenig.

Tatsächlich sind geschätzt auch bundesweit ungefähr zehn Prozent gewaltbereit. Da nimmt sich Baden-Württemberg also nicht sehr viel. Das ist der Bundesdurchschnitt.

Warum sind die Reichsbürger gerade in Baden-Württemberg so zahlreich?

Es gibt verschiedene Gründe, warum sich gerade in den süddeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg die Reichsbürger-Szene so stark sammelt. Das hat damit zu tun, wo sich Einzelpersonen niederlassen, wo sie vielleicht Gehöfte anmieten oder kaufen können, wo sich Familienverbände ansammeln. Das hat also Tradition. Aber die ziehen ja auch bundesweit um und bilden dann immer wieder auch neue Verbünde. Und da kann es sein, dass sich dann auch in bestimmten Orten oder Landkreisen Schwerpunkte bilden.

Wie wird man eigentlich zum Reichsbürger?

Nun, die Reichsbürger-Szene setzt sich aus Menschen zusammen, die eher dem gehobenen Lebensalter zugehörig sind. Das sind Menschen, die schon in der zweiten Lebenshälfte sind, die in der Regel schon im Ruhestand sind, die vielleicht ihre Selbstständigkeit abgebrochen haben, die oftmals verschuldet sind, die Familienprobleme haben, vielleicht auch Trennungen hinter sich haben. Die Erfahrung aus diesen Krisen ist bei ihnen, dass sie eben einen gewissen Status und eine gewisse Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Dann suchen sie sich eine Ideologie, die ihnen hilft, zu erklären, dass Steuern, Schulden und so weiter eigentlich gar nicht existieren, dass der Staat nicht existiert, dass auch staatliche Gesetze nicht existieren und man deswegen sich auch nicht an diese halten muss. Das hilft diesen Menschen, all ihre Krisen, ihre Schulden, ihre Probleme loszuwerden und wieder Kontrolle über ihr Leben zu bekommen.

Gerade auch bei Ingo Kramer und seinem Umfeld haben offenbar Lebenskrisen wie die Pleite des eigenen Unternehmens, eine Trennung, der Verlust einer Wohnung für die eigene Radikalisierung eine Rolle gespielt. Also der Klassiker?

Die Krisenerfahrungen sind sehr, sehr häufig in der Reichsbürger-Szene. Und das sind tatsächlich oftmals Menschen, die in der Selbstständigkeit gescheitert sind, die Schulden angehäuft haben, teilweise der Spielsucht verfallen waren oder andere Probleme hatten und letztendlich in ihrem Leben oftmals gescheitert sind. Und die suchen sich dann diese Ideologie, weil die ihnen alles erklärt. Die sagt: "Du bist nicht schuld daran. Der Staat, der belügt dich, der hat dir die ganze Zeit Steuern abgenommen, obwohl er das gar nicht hätte tun dürfen. Das heißt, du kriegst das ganze Geld zurück." Das sind ganz wichtige Erklärungsmuster, die einen in dieser Situation entlasten.

Glauben die Reichsbürger ihre kruden Fantasien und Verschwörungstheorien wirklich selbst?

Es ist natürlich immer schwer abzuschätzen, ob Menschen, die jeglicher Form von Extremismus anhängen, das wirklich ernsthaft glauben. Wie tief sie es glauben, inwiefern sie das nur aus Macht oder anderen opportunistischen Erwägungen für sich annehmen. Es ist aber so, dass bei Verschwörungsszenen die Forschung zumindest darauf hindeutet, dass diese Menschen aufgrund ihrer Krisen, ihrer Sorgen und ihrer Nöte letztlich ihren Halt, ihre Identität in diesen Verschwörungserzählungen suchen und die immer tiefer für sich auch annehmen. Weil ihnen das ganz viel Halt und Identität gibt. Es gibt Kontrolle, es wertet sie auf, sie fühlen sich gut. Sie fühlen sich als diejenigen, die eine Verschwörung erkannt haben, die "dahinter schauen". Sie bekämpfen das Böse jeden Tag.

Beobachten Sie eine größere Vernetzung der Szene?

Allgemein ist die Reichsbürger-Szene in Deutschland sehr heterogen. Es gibt eigentlich nur sehr wenige größere Gruppierungen, die es schaffen, all diese Anhängerinnen und Anhänger zusammenzubringen hinter einem Ziel oder hinter einer bestimmten ideologischen Auslegung. Das sind oftmals Einzelpersonen, Familien oder kleinere Gruppierungen, die sich zusammenschließen, die teilweise auch untereinander sehr zerstritten sind. Wir sehen aber auch eine Durchmischung mit der klassischen rechtsextremistischen Szene, der Neonaziszene. Man schätzt grob, dass zwischen drei und fünf Prozent der Reichsbürger in Deutschland als Rechtsextremisten einzuschätzen sind. Das hat auch damit zu tun, dass es persönliche Kennverhältnisse gibt, auch Überschneidungen in den Gruppierungen. Wir sehen in den letzten Jahren gerade auch bundesweit Versuche zwischen diesen Szenen, sich mehr zu vernetzen, sich intensiver zu vernetzen.

Woran sieht man das?

Es wird an gemeinsamen Veranstaltungen teilgenommen, man tauscht sich auf sozialen Medien wie Telegram aus, teilt die gemeinsamen Gruppen und Nachrichten. Das gibt es schon. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Szenen durchaus sehr durchmischt und heterogen sind.

Inwiefern vernetzt sich die Reichsbürger-Szene inzwischen auch mit den klassischen, rechtsextremen Strukturen?

Grundsätzlich gibt es Verbindungen zwischen den Reichsbürgern und sogenannten völkischen Bewegungen. Nun ist es so, dass diese völkischen, sektenartigen Bewegungen zwar nicht dominierend sind, aber wir haben auch in der Reichsbürger-Szene in den letzten Jahren eine deutlich stärkere Verbreitung von esoterischen, sektenartigen Zügen und auch Gruppierungen beobachtet. Das sind so verbindende Elemente. Wir sehen also durchaus, dass die völkische und esoterische Szene immer näher auch an die Reichsbürger-Szene heranwächst.

Mit Daniel Köhler sprach Markus Frenzel

Quelle: ntv.de

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